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Der siebente Sohn

Der siebente Sohn

Titel: Der siebente Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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Kopf schräg gelegt, um die Seiten der Stichworte durch die unteren Linsen seiner Brille zu betrachten. »Die Buchstaben haben sich richtig eingebrannt. Seltsam, nicht wahr, daß man mich einen Zauberer nennt, der ich keiner bin, und daß du, der einer bist, dich weigerst, es zuzugeben!«
    »Ich bin ein Prophet. Oder… möchte einer sein.«
    »Wenn eine deiner Prophezeiungen Wirklichkeit wird, Bill Blake, dann werde ich es glauben. Aber erst dann.«
    In den darauf folgenden Jahren hatte Geschichtentauscher nach der Erfüllung auch nur einer einzigen Prophezeiung gesucht. Doch jedesmal, wenn er geglaubt hatte, eine solche Erfüllung gefunden zu haben, konnte er im Hinterkopf die Stimme des Alten Ben hören, der eine andere Erklärung dafür anbot und ihn dafür verhöhnte, daß er glaubte, daß eine Beziehung zwischen Prophezeiung und Realität wahr sein könnte.
    »Niemals wahr«, pflegte der Alte Ben zu sagen. »Nützlich… also da ist schon etwas dran. Dein Geist stellt eine Verbindung her, die nützlich ist. Aber Wahrheit ist eine andere Sache. Das würde bedeuten, daß du eine Verbindung entdeckt hättest, die unabhängig von deiner Wahrnehmung existiert, die also existieren würde, ob du sie bemerktest oder nicht. Und ich muß feststellen, daß ich nie in meinem Leben eine solche Verbindung geschaut habe. Es gibt Zeiten, da ich den Verdacht hege, daß es keine solchen Verbindungen gibt, daß alle Verbindungen und Ähnlichkeiten nur Geschöpfe des Denkens sind und keine Substanz besitzen.«
    »Warum löst sich dann der Boden unter unseren Füßen nicht auf?« hatte Geschichtentauscher gefragt.
    »Weil es uns gelungen ist, ihn davon zu überzeugen, unsere Körper nicht durchzulassen. Vielleicht war es auch Sir Isaac Newton, der war ja so ein beharrlicher, überzeugender Bursche. Und wenn Menschen ihn auch anzweifeln mögen, der Erdboden tut es jedenfalls nicht, und deshalb hält er durch.«
    Der Alte Ben hatte gelacht. Alles war ihm ein Spaß. Er konnte sich nicht einmal dazu aufraffen, an seinen eigenen Skeptizismus zu glauben.
    Nun, da er am Fuße des Baumes saß, mit geschlossenen Augen, stellte Geschichtentauscher wieder eine Verbindung her: eine Verbindung zwischen der Geschichte von Noah mit dem Alten Ben. Der Alte Ben war Cham, der die nackte Wahrheit schaute und sie auslachte, während all die treuen Söhne von Kirche und Universität rückwärts heranschritten, um sie wieder zu bedecken, damit die lächerliche Wahrheit nicht geschaut werden konnte. So hielt die Welt die Wahrheit weiterhin für kraftvoll strotzend und stolz, weil sie sie nie in einem solch schändlichen Augenblick geschaut hatte.
    Das ist eine wahre Verbindung, dachte Geschichtentauscher. Das ist die Bedeutung der Geschichte. Das ist die Erfüllung der Prophezeiung. Die Wahrheit ist lächerlich, wenn wir sie sehen; und wenn wir sie verehren wollen, dürfen wir es uns niemals gestatten, sie zu schauen.
    In diesem Augenblick der Entdeckung sprang Geschichtentauscher auf. Er mußte sofort jemanden finden, dem er diese große Erkenntnis mitteilen konnte, solange er selbst noch daran glaubte. Wie sein eigenes Sprichwort sagte: »Die Zisterne umschließt; der Springbrunnen fließt über.«
    Wenn er seine Geschichte nicht erzählte, würde sie feucht und muffig werden, verkümmerte sie in seinem Inneren, wogegen sie frisch und tugendhaft bleiben würde, wenn er sie weitergab.
    Welche Richtung sollte er nehmen? Der Waldweg, der keine drei Ruten entfernt war, führte zu einer großen weißen Kirche mit einem eichenhohen Turm – er hatte sie, auf einem Baum sitzend, keine Meile entfernt gesehen. Es war das größte Gebäude, das Geschichtentauscher seit seinem letzten Besuch in Philadelphia zu sehen bekommen hatte. Ein derart großes Gebäude, in dem sich Menschen zusammenfinden konnten, bedeutete, daß die Leute in dieser Gegend viel Platz für Neuankömmlinge zu haben schienen. Ein gutes Zeichen für einen wandernden Geschichtentauscher, der vom Vertrauen der Fremden lebte, die ihn aufnehmen und nähren konnten, obwohl er doch nichts mit sich führte, um dafür zu bezahlen, bis auf sein Buch, sein Gedächtnis, zwei kräftige Arme und stämmige Beine, die ihn zehntausend Meilen getragen hatten und noch mindestens fünftausend weitere schaffen würden.
    Der Weg war zerfurcht von Wagenspuren, was bedeutete, daß er viel benutzt wurde. An den niedrigen Stellen war er mit Bohlen verstärkt, so daß die Wagen im regendurchtränkten Boden nicht

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