Der siebente Sohn
einsackten. Der Ort war also anscheinend auf dem Weg, eine Stadt zu werden. Möglicherweise bedeutete die große Kirche gar keine Offenheit – vielleicht kündete sie eher von Ehrgeiz. Darin liegt die Gefahr, wenn man irgend etwas beurteilt, dachte Geschichtentauscher; es gibt hundert mögliche Ursachen für jede Wirkung und hundert mögliche Wirkungen für jede Ursache. Er dachte daran, diesen Gedanken niederzuschreiben, entschied sich jedoch dagegen. Denn er trug keinerlei Spuren außer denen seiner eigenen Seele – weder die Markierungen des Himmels noch die der Hölle. Daran erkannte er, daß er ihm nicht gegeben worden war. Er hatte den Gedanken selbst erzwungen. Also konnte er keine Prophezeiung und folglich auch nicht wahr sein.
Der Weg endete auf einer Gemeinschaftsweide unweit vom Fluß, wie Geschichtentauscher am Geruch des strömenden Wassers erkannte. Um die Weide herum waren mehrere Gebäude verteilt, das größte aber war ein gekalktes, zweistöckiges Brettergebäude mit einem kleinen Schild, auf dem stand: ›Weaver's‹.
Wenn ein Haus ein Schild trägt, überlegte Geschichtentauscher, dann bedeutet das in der Regel, daß der Besitzer möchte, daß die Leute es erkennen, auch wenn man ihnen nie den Weg gesagt hat, was wiederum nichts anderes heißt, als daß das Haus für Fremde offensteht. Also schritt Geschichtentauscher darauf zu und klopfte an.
»Einen Moment!« ertönte ein Ruf im Inneren. Geschichtenerzähler wartete auf der Veranda. An einem Ende hingen mehrere Körbe, von denen die langen Blätter verschiedener Kräuter herabbaumelten. Geschichtentauscher erkannte viele von ihnen, die für unterschiedliche Zwecke nützlich waren, etwa für das Heilen, das Finden, das Versiegeln und das Erinnern. Er erkannte auch, daß die Körbe so angeordnet waren, daß sie, von einem bestimmten Punkt nahe dem Boden der Tür aus betrachtet, ein vollkommenes Hexagramm bildeten. Dieser Effekt war sogar derart deutlich, daß Geschichtentauscher sich zuerst niederkauerte und schließlich sogar auf den Boden der Veranda legte, um es richtig zu erkennen. Die Farben, die an den genau richtigen Stellen an den Körben angebracht waren, bewiesen, daß es kein Zufall war. Es war ein ausgezeichnetes Schutzhexagramm, auf die Eingangstür ausgerichtet.
Geschichtentauscher versuchte sich zu überlegen, warum jemand einen solch mächtigen Zauber errichten und doch danach streben sollte, ihn zu verbergen. Ja, Geschichtentauscher war wahrscheinlich die einzige Person weit und breit, die die Macht eines Hexagramms hinreichend spürte, um darauf aufmerksam zu werden. Er lag noch immer auf dem Boden und grübelte darüber nach, als die Tür aufging und ein Mann fragte: »Seid Ihr so müde, Fremder?«
Geschichtentauscher sprang auf. »Habe nur Eure Kräuteranordnung bewundert. Ein erstaunlicher Garten, Sir.«
»Es ist der Garten meiner Frau«, erwiderte der Mann.
»Sie beschäftigt sich ständig damit. Muß alles genau so haben.«
War der Mann ein Lügner? Nein, entschied Geschichtentauscher. Er wollte nicht die Tatsache verbergen, daß die Körbe und die heraushängenden, miteinander verschlungenen Blätter ein Hexagramm ergaben. Er wußte es einfach nicht. Irgend jemand – wahrscheinlich seine Frau – hatte unbemerkt einen Schutz für dieses Haus errichtet.
»Sieht mir genau richtig aus«, meinte Geschichtentauscher.
»Ich habe mich schon gewundert, wie jemand hier eintreffen kann, ohne daß ich den Wagen oder das Pferd höre. Aber so, wie Ihr ausseht, seid Ihr wohl zu Fuß gekommen.«
»Das bin ich in der Tat, Sir«, erwiderte Geschichtentauscher.
»Und euer Bündel erscheint mir auch nicht voll genug, um viele Tauschobjekte enthalten zu können.«
»Ich tausche auch keine Dinge, Sir«, sagte Geschichtentauscher.
»Was denn? Was läßt sich außer Dingen schon handeln und tauschen?«
»Arbeit, zum Beispiel«, erwiderte Geschichtentauscher. »Ich arbeite für Kost und Unterkunft.«
»Für einen Wanderer seid Ihr schon ein alter Mann.«
»Ich bin Siebenundfünfzig geboren, so daß mir noch gut siebzehn Jahre bleiben, bis ich meine dreimal zwanzig und zehn Jahre aufgebraucht habe. Und außerdem verfüge ich über einige Talente.«
Sofort schien der Mann zurückzuweichen. Nicht etwa körperlich – es waren seine Augen, die plötzlich einen distanzierten Ausdruck bekamen, als er sagte: »Meine Frau und ich erledigen unsere eigene Arbeit hier, da unsere Söhne noch recht klein sind. Wir bedürfen keiner
Weitere Kostenlose Bücher