Der siebente Sohn
wüßte, ob ich einen Tag hierbliebe oder eine Woche oder einen Monat. Ich wüßte, ob Brustwehr mein Freund sein würde, wie ich hoffe, oder mein Feind, wie ich befürchte. Ich wüßte, ob seine Frau sich eines Tages befreien würde, um ihre Kräfte in aller Offenheit zu verwenden. Ich wüßte, ob ich diesem Roten Propheten einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen würde.
Doch solcherlei Gedanken führten zu nichts, wie er genau wußte. Das war die Art Sehen, die eine Fackel beherrschte – er hatte oft genug mitangesehen, wie sie es taten, und es hatte ihn mit Furcht erfüllt, denn es war nicht gut, wenn ein Mensch allzuviel von seinem Lebensweg im voraus wußte. Nein, was er sich als Fertigkeit wünschte, war die Gabe der Prophezeiung, nicht die kleinen Handlungen von Männern und Frauen in ihren kleinen Winkeln der Welt zu schauen, sondern vielmehr den großen Strom der Ereignisse, wie sie von Gott gelenkt wurden. Oder von Satan – da war Geschichtentauscher nicht wählerisch, denn beide besaßen eine recht gute Vorstellung davon, was sie mit der Welt vorhatten, so daß wahrscheinlich jeder von ihnen einige Dinge über die Zukunft wußte. Natürlich war es wahrscheinlich angenehmer, von Gott zu hören. Die Spuren des Bösen, mit denen er bisher in seinem Leben in Verbindung geraten war, hatten alle auf die eine oder andere Weise Schmerzen verursacht.
Die Kirchentür stand offen, denn es war ein warmer Herbsttag. Das Gotteshaus wirkte innen ebenso stattlich wie außen, doch um einiges freundlicher: ein heller und luftiger Ort mit gekalkten Wänden und Glasfenstern. Sogar die Bänke und die Kanzel waren von hellem Holz. Dunkel hier war einzig der Altar, so daß er sofort seine Aufmerksamkeit erregte. Und weil er ein Talent für diese Art von Dingen besaß, entdeckte er auf ihm Spuren einer Flüssigkeit.
Langsam schritt er auf den Altar zu, langsam, weil so ein Ding eigentlich nicht in einer christlichen Kirche hätte stehen dürfen. Als er näher gekommen war, gab es jedoch keinen Zweifel mehr. Es war die gleiche Spur, die er auf dem Gesicht des Mannes in DeKane gesehen hatte, der seine eigenen Kinder zu Tode gequält und es den Roten angelastet hatte. Dieselbe Spur hatte er auf dem Schwert wahrgenommen, das George Washington geköpft hatte. Es war wie eine dünne Schicht schmutzigen Wassers, unsichtbar, es sei denn, man blickte es aus einem bestimmten Winkel an. Doch für Geschichtentauscher war es immer sichtbar – er hatte ein Auge dafür.
Er streckte die Hand vor und legte den Zeigefinger vorsichtig auf die deutlichste Spur. Es bedurfte all seiner Kraft, ihn auch nur einen Augenblick dort zu behalten, so sehr brannte es, es ließ seinen ganzen Arm zittern und schmerzen bis hinauf zur Schulter.
»Ihr seid willkommen im Haus Gottes«, sagte eine Stimme.
Geschichtentauscher, der seinen verbrannten Finger in den Mund gesteckt hatte, drehte sich zu dem Sprechenden um. Der Mann war wie ein Prediger des Schottischen Ritus gekleidet – ein Presbyterianer, wie man sie hier in Amerika nannte.
»Ihr habt Euch doch wohl keinen Splitter zugezogen, oder?« fragte der Prediger.
Es wäre leichter gewesen, einfach nur zu sagen: »Ja, ich habe mir einen Splitter zugezogen.«
Doch Geschichtentauscher erzählte nur Geschichten, die er auch glaubte. »Prediger«, sagte Geschichtentauscher, »der Teufel hat seine Hand auf diesen Altar gelegt.«
Sofort verschwand das fröhliche Lächeln des Predigers. »Woher wißt Ihr, daß es der Handabdruck des Teufels ist?«
»Die Fähigkeit zu sehen ist eine Gabe Gottes«, sagte Geschichtentauscher.
Der Prediger musterte ihn eindringlich, unsicher, ob er ihm glauben sollte oder nicht. »Dann könntet Ihr also auch feststellen, was von Engeln berührt wurde?«
»Ich glaube, ich könnte Spuren feststellen, wenn gute Geister eingegriffen hätten. Ich habe solche Markierungen schon gesehen.«
Der Prediger hielt inne, als wollte er eine sehr wichtige Frage stellen, als würde er sich aber auch vor der Antwort fürchten. Dann erschauerte er, das Verlangen nach Aufklärung wich von ihm, und nun sprach er mit einer gewissen Verachtung. »Unsinn. Das gemeine Volk könnt Ihr vielleicht narren, aber ich bin in England erzogen worden und lasse mich nicht von Gerede über verborgene Mächte in die Irre führen.«
»Oh«, sagte Geschichtentauscher. »Ihr seid ein gebildeter Mann.«
»Und Ihr ebenfalls, Eurer Rede nach zu urteilen«, meinte der Prediger. »Aus dem Süden Englands,
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