Der siebte Schrein
Mittagshitze in sich aufsaugt und festhält wie ein Schwamm. Fragt die Archäologin, wenn Ihr mir nicht glaubt. Diese Provinz wurde absichtlich in eine Wüste verwandelt, um diejenigen zu bestrafen, die sich hier schwer versündigt hatten.«
»Um so mehr Grund für uns, anderswo zu sein«, murmelte Tunigorn. »Aber nein, nein, dies ist unser Ort, hier mit Valentine, jetzt und in Ewigkeit.«
Valentine schenkte ihren Worten so gut wie keine Beachtung. Er marschierte ziellos weiter, über einen unkrautüberwucherten Weg nach dem anderen, an umgestürzten Säulen und zerschmetterten Fassaden, an leerstehenden Gebäuden, die einmal Geschäfte und Tavernen gewesen sein mochten, an den geisterhaften Umrissen vorbei, welche den Fundamenten verschwundener Gebäude entsprachen, die in ihrer Pracht einst palastähnlich gewesen sein mußten. Nichts war beschriftet, und Magadone Sambisa war nicht bei ihnen, um ihren endlosen Wortschwall über die einstige Funktion dieser Häuser über ihm auszuschütten. Sie waren Bestandteile des untergegangenen Velalisier, mehr wußte er nicht: skeletthafte Überreste dieser uralten Metropole.
Es fiel ihm leicht, sich diesen Ort als Brutstätte alter Geister vorzustellen. Ein glasähnlicher Schimmer von Licht, das aus einer unebenen Masse eingestürzter Säulen schien . . . seltsame Kratzgeräusche, die von umherschleichenden Geschöpfen stammen mochten, wo man keine Geschöpfe sehen konnte . . . das vereinzelte Zischen und Rascheln von rutschendem Sand, Sand, so schien es, der aus eigenem Antrieb in Bewegung geraten war . . .
»Jedesmal, wenn ich diese Ruinen besuche«, sagte er zu Mirigant, der gerade unmittelbar neben ihm ging, »erstaunt mich ihr hohes Alter. Die Last der Geschichte, die auf ihnen ruht.«
»Geschichte, an die sich niemand mehr erinnert«, sagte Mirigant.
»Aber ihre Last bleibt dennoch.«
»Allerdings nicht unsere Geschichte.«
Valentine warf seinem Cousin einen mißfälligen Blick zu. »Das glaubst du vielleicht. Aber es ist Majipoors Geschichte, und welche sollte das sein, wenn nicht unsere?«
Mirigant zuckte mit den Schultern, gab aber keine Antwort.
Ergab das einen Sinn, fragte sich Valentine, was er gerade gesagt hatte? Oder verwirrte die Sonne sein Gehirn?
Er dachte darüber nach. Und da schoß ihm, fast mit der Wucht einer Explosion, eine Vision der Ganzheit des riesigen Majipoor durch den Kopf. Seine großen Kontinente und überwältigenden Flüsse und gewaltigen funkelnden Meere, die dichten und feuchten Dschungel und unermeßlichen Wüsten, die Wälder mit ihren turmhohen Bäumen und die Berge, in denen mannigfaltige und wunderbare Geschöpfe lebten, die Vielzahl der Großstädte mit ihrer nach Millionen zählenden Bevölkerung. Ein Übermaß an Gefühlen strömte in seine Seele ein, der Duft von tausenderlei Blumen, das Aroma von Tausenden von Gewürzen, der Geruch von tausend wundersamen Fleischsorten, das Bukett Tausender Weine. Es war eine Welt grenzenloser Fruchtbarkeit und Vielfalt, sein Majipoor.
Und durch eine Laune der Herkunft und das Pech seines Bruders war er zuerst Coronal und nun Pontifex dieser Welt geworden. Zwanzig Milliarden jubelten ihm als ihrem Kaiser zu. Sein Gesicht zierte die Münzen; die Welt hallte wider von Lobpreisungen seiner Person; sein Name würde für alle Zeiten im Verzeichnis der Monarchen im Haus der Aufzeichnungen stehen, ein unauslöschlicher Teil der Geschichte dieser Welt.
Aber es hatte eine Zeit gegeben, da hatten keine Pontifices oder Coronals hier geherrscht. Da waren grandiose Städte wie Ni-moya und Alaisor und die fünfzig großen urbanen Zentren des Burgbergs noch nicht erbaut gewesen. Und in jener Zeit, bevor die Besiedlung durch die Menschen auf Majipoor begonnen hatte, da hatte diese Stadt Velalisier bereits existiert.
Welches Recht hatte er, diese Stadt, die schon Jahrtausende tot und verlassen gewesen war, als die ersten Kolonisten aus dem Weltraum eingetroffen waren, in den Strom der Geschichte der Menschen einzugliedern? In Wahrheit bestand eine derart tiefe Kluft zwischen ihrem Majipoor und unserem Majipoor, dachte er, daß sie sich vielleicht niemals überbrücken ließ.
Auf jeden Fall konnte er das Gefühl nicht abschütteln, daß die gewaltigen Legionen der Geister dieses Ortes, an die er nicht einmal glaubte, rings um ihn herum lauerten und ihre Wut längst nicht gestillt war. Irgendwie mußte er sich mit dieser Wut auseinandersetzen, die scheinbar jetzt in Form einer schrecklichen Tat
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