Der siebte Schrein
zweimal gesehen und kann ihm immer noch nichts abgewinnen. Wenn du gehst, mußt du ohne mich gehen.«
»Ich habe vor, zu gehen, Carabella.«
»Dann geh. Wenn du mußt.« Und sie gab ihm einen Kuß auf die Nasenspitze, denn es entsprach nicht ihren Gepflogenheiten, zu streiten oder auch nur uneins zu sein. Aber als er ging, ging er tatsächlich ohne sie. Sie befand sich heute nacht in den königlichen Gemächern im Labyrinth, und er hier, in diesem prunkvollen, aber einsamen Zelt in dieser ausgedörrten und verfallenen Stadt uralter Geister.
In der Nacht besuchten sie ihn in seinen Träumen, diese Geister.
Sie besuchten ihn derart deutlich, daß er glaubte, eine Sendung zu erleben - eine verständliche und absichtliche direkte Kommunikation in Form eines Traums.
Aber es glich keiner Sendung, die er je gehabt hatte. Kaum hatte er die Augen geschlossen, da wanderte er im Schlaf zwischen den rissigen und bröckelnden Häusern des toten Velalisier einher. Unheimliches Geisterlicht, geheimnisvolles Licht, tanzte aus jedem geborstenen Stein. Die Stadt erstrahlte limonengrün und zitronengelb und pulsierte vor innerem Leuchten. Strahlende Gesichter, Geistergesichter, grinsten aus der Luft spöttisch auf ihn herab. Die Sonne selbst wirbelte und schlug ungestüme Kapriolen am Himmel.
Ein dunkles Loch, das in die Erde führte, lag offen vor ihm, und er betrat es ohne jedes Zögern und ging eine lange Treppenflucht massiver, mit Flechten verkrusteter Steinstufen hinunter, in die archaische, verschnörkelte Runen eingeritzt waren. Jede Bewegung war mühsam. Obwohl er immer weiter hinabstieg, war der Kraftaufwand derselbe, als würde er aufwärtsklettern. Unter großer Anstrengung stieg er immer tiefer, kam sich dabei aber so vor, als würde er gegen einen mächtigen Sog ankämpfen und aufwärtsgehen, eine umgekehrte Pyramide erklimmen, aber keine schlanke, wie die oberirdischen in dieser Stadt, sondern von unvorstellbarem Umfang und Durchmesser. Er stellte sich vor, daß er sich einen Berghang hinaufkämpfte; aber es war ein Berg, der nach unten führte, tief in die Eingeweide der Welt hinein. Und der Pfad führte ihn abwärts, wie er wußte, in ein Labyrinth hinab, das weitaus furchteinflößender war als das, in dem er sein tägliches Leben verbrachte.
Die wirbelnden Geistergesichter sausten schwindelerregend vorbei und verschwanden. Kicherndes Gelächter drang aus der Dunkelheit zu ihm. Die Luft war feucht und heiß und abgestanden. Der Sog der Schwerkraft war erdrückend. Bei seinem endlosen Abstieg, Ebene für Ebene, zeigten ihm gelbe Lichtblitze Höhlen, die in alle Richtungen verliefen und sich in unverständlichen Winkeln erstreckten, die konkav und konvex zugleich waren.
Und nun herrschte plötzlich blendende Helligkeit. Das pulsierende Feuer einer unterirdischen Sonne strahlte ihm aus den Tiefen entgegen, ein harscher, bedrohlicher Glanz.
Valentine wurde auf dieses schreckliche Licht zu gezogen, ohne etwas dagegen tun zu können; und dann befand er sich ohne wahrnehmbaren Übergang nicht mehr unter der Erde, sondern auf der weiten Ebene von Velalisier, auf einer der riesigen Plattformen aus blauem Stein, die als Tische der Götter bekannt waren.
Er hielt ein großes Messer in der Hand, einen Krummdolch, der in der gleißenden Mittagssonne funkelnde Blitze warf.
Und als er über die Ebene schaute, sah er eine gewaltige Prozession von Osten her auf sich zukommen, aus der Richtung des fernen Meeres: Tausende Leute, Hunderttausende, wie eine marschierende Ameisenarmee. Nein, zwei Armeen; denn die Marschierenden waren in zwei gewaltige parallele Reihen geteilt. Valentine konnte am Ende jeder Reihe, fast am Horizont, zwei riesige Wagen aus Holz auf titanischen Rädern erkennen. Gewaltige Taue waren daran befestigt, und die Marschierenden zogen die Wagen unter enormer Anstrengung langsam vorwärts, mit jedem Ruck vielleicht einen halben Meter, auf das Stadtzentrum zu.
Auf jedem Wagen lag ein kolossaler Wasserkönig festgezurrt, ein Meeresdrachen von monströser Größe. Die gewaltigen Geschöpfe sahen die Leute, die sie gefangen hatten, böse an, konnten sich aber nicht einmal mit den Riesenkräften der Meeresdrachen von ihren Fesseln befreien, wie sehr sie sich auch bemühten. Und mit jedem Zug an den Tauen brachten die Wagen sie näher an die beiden Plattformen, an die Tische der Götter.
Dem Ort des Opfers.
Der Stätte, wo der schreckliche Wahnsinn der Schandtat stattfinden sollte. Wo Valentine, der Pontifex
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