Der siebte Schrein
Stiefvater antwortete, klang es erstickt und fast unverständlich. Er winkte mit der Hand. »Nimm ihr die Ketten ab, Avalles. Ich will nichts mehr von ihr.«
Inmitten dieser großen, öden Wüste der Traurigkeit verspürte ich einen Augenblick stechenden Glücksgefühls, als mir klar wurde, daß die Hexe, mein Liebster, selbst mein gequälter Stiefvater diese schreckliche Nacht trotz meiner bösen Vorahnungen alle überleben würden. Als Avalles die Handschellen der Hexe öffnete, wobei er so zitterte, daß er kaum den Schlüssel halten konnte, träumte ich einen Moment, daß mein Onkel wieder gesund werden, meinen Tellarin für seine Tapferkeit und Loyalität belohnen würde, und daß mein Liebster und ich uns ein Heim irgendwo fern von dieser von Geistern geplagten, stürmischen Landspitze suchen würden.
Plötzlich stieß mein Stiefvater einen erschreckenden Schrei aus. Ich drehte mich um und sah ihn, von Weinkrämpfen geschüttelt, bäuchlings auf den Boden fallen. Dieser Anfall von Kummer des strengen, ruhigen Sulis war in gewisser Weise das Schlimmste, was ich in dieser langen, grauenhaften Nacht bis jetzt gesehen hatte.
Noch während der Schrei im unsichtbaren oberen Bereich der Kammer verhallte und ein leises Rascheln der Blätter des Schattenbaums bewirkte, erregte etwas anderes meine Aufmerksamkeit. Zwei Gestalten kämpften miteinander, wo die Hexe gestanden hatte. Zuerst dachte ich, Avalles und die Frau Valada würden miteinander ringen, doch dann sah ich, daß die Hexe beiseite getreten war und den Kampf mit einem verwunderten Ausdruck in den hellen Augen verfolgte. Avalles und Tellarin waren ineinander verschlungen, die Fackeln waren ihnen aus den Händen gefallen. Schockiert und hilflos vor Überraschung sah ich die beiden zu Boden stürzen. Einen Augenblick später wurde ein Dolch gehoben und gesenkt, und der kurze Kampf war vorüber.
Ich schrie »Tellarin!« und eilte zu ihnen.
Er stand auf, klopfte sich Staub von den Hosen und starrte mich an, als ich aus den Schatten gelaufen kam. Das Ende seines Dolchs war schwarz von Blut. Tellarin hatte eine Ruhe an sich, die auf Angst oder schlichte Überraschung zurückzuführen sein mochte.
»Breda? Was machst du hier?«
»Warum hat er dich angegriffen?« schrie ich. Avalles lag verkrümmt auf dem Boden in einer wachsenden schwarzen Lache. »Er war dein Freund!«
Er sagte nichts, beugte sich zu mir, küßte mich, wandte sich ab und ging zu meinem Stiefvater, der immer noch in seinem Anfall von Kummer auf dem Boden kauerte. Mein Liebster stemmte meinem Stiefvater das Knie auf den Rücken, griff mit der Hand ins Haar am Hinterkopf des älteren Mannes und zog, bis das tränenüberströmte Gesicht vom Licht der Fackeln angestrahlt wurde.
»Ich wollte Avalles nicht töten«, erklärte mein Soldat teils mir, teils Sulis. »Aber er bestand darauf, uns zu begleiten, weil er fürchtete, ich würde höher in der Gunst seines Onkels steigen, wenn er nicht auch dabei wäre.« Er schüttelte den Kopf. »Traurig. Aber nur dein Tod war mein Auftrag, Sulis, und ich habe lange auf eine so perfekte Gelegenheit gewartet.«
Trotz der unbarmherzigen Verspannung, zu der Tellarins Griff ihn zwang, lächelte mein Stiefvater, ein gräßliches, verzerrtes Grinsen. »Welches Sancellan hat dich geschickt?«
»Spielt das eine Rolle? Du hast mehr Feinde in Nabban, als du zählen kannst, Renegat Sulis. Du bist ein Ketzer und Glaubensspalter, und du bist gefährlich. Du hättest wissen müssen, daß man dich hier nicht in Frieden läßt, damit du in der Wildnis deine Macht vergrößern kannst.«
»Ich bin nicht hierhergekommen, um meine Macht zu vergrößern«, grunzte mein Stiefvater. »Ich bin gekommen, um Antworten auf meine Fragen zu bekommen.«
»Tellarin!« Ich bemühte mich, einen Sinn auszumachen, wo es keinen geben konnte. »Was machst du da?«
Seine Stimme nahm einen Hauch ihres früheren zärtlichen Tonfalls an. »Dies hat nichts mit dir und mir zu tun, Breda.«
»Hast du . . .?« Ich brachte es kaum über die Lippen. Durch meine Tränen verschwamm die ganze Kammer wie durch das Schwarze Feuer. »Hast du . . . nur so getan, als liebtest du mich? Sollte dir alles nur helfen, ihn zu töten?«
»Nein! Dich hätte ich nicht gebraucht, Mädchen - ich gehörte schon zu den Männern, denen er am meisten vertraute.« Daraufhin packte er Sulis noch fester, bis ich fürchtete, das Genick meines Stiefvaters würde brechen. »Was zwischen uns ist, kleine Breda, ist schön und
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