Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der siebte Schrein

Der siebte Schrein

Titel: Der siebte Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
Vom Netzwerk:
zurückgebracht hat, daran gestorben. Heb die Hand, undankbarer Mann!«
    »Ich kann nicht. Ich kann mich überhaupt nicht bewegen.«
    »Oh, du Falscher! Kennst du nicht das Sprichwort: ›Halt deine Mutter nicht zum Narren, es sei denn, sie ist außer Sicht‹? Ich weiß sehr genau, was du kannst und was nicht. Jetzt heb die Hand!«
    Roland hob die rechte Hand und versuchte, mehr Anstrengung vorzutäuschen, als es tatsächlich kostete. Er glaubte, daß er heute morgen kräftig genug war, um sich aus den Schlingen zu befreien . . . aber was dann? Bis er richtig gehen konnte, würden noch Stunden vergehen, auch ohne eine weitere Dosis »Medizin« . . . und hinter Schwester Mary hob Schwester Louise den Deckel von einem frischen Teller Suppe. Als Roland sie sah, knurrte sein Magen.
    Die Große Schwester hörte es und lächelte schmal. »Ein kräftiger Mann bekommt auch im Bett Appetit, wenn er nur lange genug drin liegt. Findest du nicht auch, Jason, Bruder von John?«
    »Mein Name ist James. Wie du sehr gut weißt, Schwester.«
    »Wirklich?« Sie lachte wütend. »Oh, la! Und wenn ich deine kleine Herzallerliebste fest und lange genug auspeitschen lassen würde - sagen wir, bis ihr das Blut wie Schweißtropfen aus dem Rücken quillt -, würde ich nicht einen anderen Namen aus ihr herausprügeln? Oder hast du ihn ihr während eurer kurzen Unterhaltung nicht anvertraut?«
    »Wenn ihr ein Leid geschieht, töte ich dich.«
    Sie lachte wieder. Ihr Gesicht flimmerte; ihr fester Mund verwandelte sich in etwas, das wie eine sterbende Qualle aussah. »Sprich uns nicht vom Töten, Hübscher, auf daß wir nicht zu dir davon sprechen.«
    »Schwester, wenn du und Jenna einander nicht ausstehen könnt, warum entbindest du sie dann nicht von ihrem Gelübde und läßt sie ihres Weges ziehen?«
    »Solche wie uns kann man niemals von ihrem Gelübde entbinden oder gehen lassen. Ihre Mutter hat es versucht und ist zurückgekommen, sie sterbend und ihr Kind krank. Wir waren es, die Jenna gesundgepflegt haben, als ihre Mutter nichts weiter war als Staub im Wind, der Richtung Endwelt weht, und wie wenig sie es uns dankt! Außerdem trägt sie die Dunklen Glocken, das Sigul unserer Schwesternschaft. Unseres Ka-tet. Und nun iß - dein Bauch sagt, daß du hungrig bist!«
    Schwester Louise hielt ihm die Schüssel hin, aber ihr Blick wanderte immer wieder zu dem Umriß des Medaillons auf seiner Brust, unter dem Nachthemd. Gefällt dir nicht, was? dachte Roland, und dann fiel ihm Louise bei Kerzenschein ein, das Blut des Frachtzugführers am Kinn, ihre uralten Augen gierig, als sie sich nach vorn beugte, um seine Flüssigkeit von Schwester Marys Hand zu lecken.
    Er wandte den Kopf ab. »Ich will nichts.«
    »Aber du hast Hunger!« wandte Louise ein. »Wenn du nicht ißt, James, wie willst du wieder zu Kräften kommen?«
    »Schickt Jenna. Ich esse, was sie bringt.«
    Schwester Marys Stirnrunzeln war pechschwarz. »Du wirst sie nicht mehr sehen. Sie ist nur aus dem Haus der Besinnung entlassen worden, nachdem sie feierlich versprochen hat, die Zeit für ihre Meditation zu verdoppeln . . . und sich vom Lazarett fernzuhalten. Nun iß, James, oder wer immer du bist. Nimm zu dir, was in der Suppe ist, oder wir schneiden dich mit Messern auf und reiben es dir mit Flanelltüchern hinein. Uns ist es so oder so einerlei. Oder nicht, Louise?«
    »Ganz recht«, sagte Louise. Sie hielt ihm immer noch den Teller hin. Dampf und der köstliche Duft von Huhn stiegen davon auf.
    »Aber dir dürfte es nicht einerlei sein.« Schwester Mary grinste humorlos und entblößte ihre unnatürlich großen Zähne. »Fließendes Blut ist gefährlich hier drinnen. Die Ärzte mögen es nicht. Es regt sie auf.«
    Nicht nur die Käfer wurden beim Anblick von Blut erregt, das wußte Roland. Er wußte auch, er hatte keine andere Wahl, was die Suppe betraf. Er nahm Louise den Teller ab und aß langsam. Er hätte viel darum gegeben, den zufriedenen Gesichtsausdruck von Schwester Marys Gesicht wischen zu können.
    »Gut«, sagte er, als er ihr den Teller zurückgegeben und sie sich vergewissert hatte, daß er ganz leer war. Seine Hand wurde ihm zu schwer und sank auf die Schlinge zurück, die für sie gerichtet worden war. Er konnte spüren, wie sich die Welt wieder von ihm zurückzog.
    Schwester Mary beugte sich nach vorne, so daß das wallende Oberteil ihrer Tracht die Haut seiner linken Schulter berührte. Er konnte sie riechen, ein überreifes und trockenes Aroma, und hätte

Weitere Kostenlose Bücher