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Der siebte Schrein

Der siebte Schrein

Titel: Der siebte Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Seide.
    Roland atmete schwer und konnte Schweißperlen auf seiner Stirn spüren. Er war immer noch allein - gut. Er nahm das Stück Tuch und faltete es auseinander. In verwischten, sorgfältig ausgeführten Kohlebuchstaben stand folgende Botschaft darauf:
     
    R ISPEN K NABBERN . N UR EINMAL JEDE S TUNDE . Z U
VIEL , K RÄMPFE ODER T OD .
M ORGEN N ACHT . K ANN NICHT FRÜHER .
S EI VORSICHTIG !
     
    Keine Erklärung, aber Roland hielt auch keine für erforderlich. Und er hatte auch keine Alternative; wenn er hier blieb, würde er sterben. Sie mußten ihm nur das Medaillon abnehmen, und er war davon überzeugt, daß Schwester Mary schlau genug war, das irgendwie zu bewerkstelligen.
    Er knabberte an einer der trockenen Rispen. Der Geschmack erinnerte nicht im geringsten an den Toast, den sie als Kinder in der Küche erbettelt hatten; er war bitter im Hals und heiß im Magen. Keine Minute nachdem Roland daran geknabbert hatte, verdoppelte sich sein Herzschlag. Seine Muskeln erwachten, aber nicht auf angenehme Weise wie nach einem gesunden Schlaf; sie fühlten sich zuerst zittrig an und dann ganz hart, als wären sie völlig verkrampft. Das Gefühl ließ rasch wieder nach, und bevor sich Norman rund eine Stunde später regte, hatte sich sein Herzschlag wieder normalisiert, aber er begriff, warum Jenna ihn in ihrer Notiz gewarnt hatte, nicht mehr als einmal daran zu knabbern - es war ein starkes Zeug.
    Er schob das Bukett der Halme wieder unter das Kissen und achtete sorgfältig darauf, die wenigen Pflanzenkrümel wegzuwischen, die auf das Laken gefallen waren. Dann verwischte er mit den Daumenballen die fein säuberlichen Kohleworte auf dem Stück Seide. Als er fertig war, hatte er nur noch ein quadratisches Stück Stoff mit sinnlosen schwarzen Schlieren darauf. Auch dieses Quadrat steckte er unter das Kissen.
    Als Norman erwachte, sprachen er und der Revolvermann kurz über die Heimat des jungen Scouts - Delain, das manchmal scherzhaft als Drachenhort oder Lügnerhimmel bezeichnet wurde. Alle Ammenmärchen hatten angeblich ihren Ursprung in Delain. Der Junge bat Roland, sein Medaillon und das seines Bruders zu ihren Eltern nach Hause zu bringen, wenn Roland dazu in der Lage wäre, und so gut wie möglich zu erklären, was James und John, den Söhnen von Jesse, zugestoßen war.
    »Das wirst du alles selbst machen«, sagte Roland.
    »Nein.« Norman versuchte, die Hand zu heben, um sich vielleicht an der Nase zu kratzen, brachte aber nicht einmal das fertig. Er konnte die Hand etwa fünfzehn Zentimeter anheben, dann fiel sie mit einem leisen Plumps auf die Platte zurück. »Ich glaube nicht. Jammerschade, daß wir uns auf diese Weise begegnet sind, weißt du - ich mag dich.«
    »Und ich dich auch, John Norman. Ich wünschte, wir hätten uns unter günstigeren Umständen kennengelernt.«
    »Aye. Nicht in Gesellschaft so faszinierender Damen.«
    Kurz danach schlief er wieder ein. Roland sprach nie wieder mit ihm . . . allerdings sollte er noch von ihm hören. Ja. Roland hing über seinem Bett und gab vor zu schlafen, als John Norman seinen letzten Schrei ausstieß.
    Schwester Michela kam mit der abendlichen Suppe, als Roland gerade Muskelzittern und rasenden Herzschlag überwand, nachdem er zum zweitenmal an dem braunen Riedgras geknabbert hatte. Michela betrachtete sein gerötetes Gesicht mit einiger Sorge, mußte aber seine Beteuerungen akzeptieren, daß er sich nicht fiebrig fühlte; sie brachte es nicht über sich, ihn zu berühren und selbst die Temperatur seiner Haut zu überprüfen - das Medaillon hielt sie ab.
    Diesmal gab es eine Pastete zur Suppe. Das Brot war wie Leder und das Fleisch darin zäh, aber Roland verschlang es dennoch gierig. Michela beobachtete es mit einem beifälligen Lächeln, hatte die Hände vor sich gefaltet und nickte von Zeit zu Zeit. Als er mit der Suppe fertig war, nahm sie ihm den Teller weg, achtete aber sorgfältig darauf, daß sich ihre Finger nicht berührten.
    »Du wirst gesund«, sagte sie. »Bald gehst du wieder deiner Wege, und uns bleibt nur die Erinnerung an dich, Jim.«
    »Ist das wahr?« fragte er ruhig.
    Sie sah ihn nur an, fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe, kicherte und entfernte sich. Roland schloß die Augen, ließ sich in das Kissen zurücksinken und spürte, wie erneut Lethargie über ihn kam. Ihr berechnender Blick . . . ihre vorwitzige Zunge. Er hatte Frauen Brathühnchen und Hammelkeulen auf dieselbe Weise betrachten sehen, wenn sie abschätzten, wann das

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