Der siebte Schrein
gewürgt, wenn er die Kraft dazu gehabt hätte.
»Nimm dieses widerliche Goldding ab, wenn du wieder ein wenig bei Kräften bist - wirf es in den Pißtopf unter dem Bett. Wo es hingehört. Ich bekomme Kopfschmerzen, und mein Hals ist wie zugeschnürt, wenn ich auch nur in der Nähe davon bin.«
Unter immenser Anstrengung sagte Roland: »Wenn du es willst, nimm es weg. Wie könnte ich dich daran hindern, du Miststück?«
Wieder verwandelte das Stirnrunzeln ihr Gesicht in so etwas wie eine Gewitterwolke. Er glaubte, sie hätte ihn geohrfeigt, wenn sie gewagt hätte, ihn so nahe bei dem Medaillon zu berühren. Aber die Fähigkeit, ihn anzufassen, schien an der Gürtellinie zu enden.
»Ich finde, du hättest diesen Punkt ein bißchen gründlicher durchdenken sollen«, sagte sie. »Ich kann Jenna immer noch auspeitschen lassen, wenn ich will. Sie trägt die Dunklen Glocken, aber ich bin die Große Schwester. Daran solltest du immer denken.«
Sie ging. Schwester Louise folgte ihr und warf im Weggehen einen Blick - eine seltsame Mischung aus Furcht und Lust - über die Schulter zurück.
Roland dachte: Ich muß hier raus - ich muß einfach.
Statt dessen schwebte er an jenen dunklen Ort zurück, der nicht ganz Schlaf war. Vielleicht schlief er auch; jedenfalls eine Weile; vielleicht träumte er. Wieder liebkosten Finger seine Finger, küßten Lippen erst sein Ohr und flüsterten dann hinein: »Schau unter dein Kissen, Roland . . . aber laß niemand wissen, daß ich hier gewesen bin.«
Irgendwann danach schlug Roland wieder die Augen auf und rechnete halb damit, Schwester Jennas hübsches Gesicht über sich schweben zu sehen. Und die dunkle Haarlocke, die wieder unter ihrer Haube hervorlugte. Aber es war niemand da. Die Seidenbahnen über ihm leuchteten hell, und obwohl es unmöglich war, hier drinnen die Zeit einigermaßen akkurat zu schätzen, vermutete Roland, daß es gegen Mittag sein mußte. Vielleicht drei Stunden, seit er den zweiten Teller Suppe von den Schwestern bekommen hatte.
An seiner Seite schlief John Norman und atmete mit einem pfeifenden, nasalen Schnarchen.
Roland versuchte, die Hand zu heben und unter das Kissen zu schieben. Die Hand ließ sich nicht bewegen. Er konnte mit den Fingerspitzen wackeln, aber das war alles. Er wartete, beruhigte seinen Geist, so gut er konnte, und nahm alle Geduld zusammen. Es war nicht leicht, sich in Geduld zu fassen. Er mußte immerzu daran denken, was Norman gesagt hatte - daß es siebenundzwanzig Überlebende des Hinterhalts gegeben hatte . . . jedenfalls anfänglich. Dann verschwanden sie einer nach dem anderen, bis nur noch ich und der da unten übrig waren. Und jetzt du.
Das Mädchen war nicht da. Sein Verstand sprach mit der leisen, kummervollen Stimme Alains, eines seiner alten Freunde, der jetzt schon so viele Jahre tot war. Sie würde es nicht wagen, während sie von den anderen beobachtet wird. Das war nur ein Traum, den du gehabt hast.
Aber Roland glaubte, daß es vielleicht mehr als ein Traum gewesen war.
Nach einer gewissen Zeitspanne später - die langsame Verschiebung der Helligkeit über ihm ließ ihn vermuten, daß es eine Stunde gewesen war - versuchte Roland wieder, die Hand zu bewegen. Diesmal gelang es ihm, sie unter das Kissen zu schieben. Es war aufgeschüttelt und weich und ordentlich in die breite Schlinge gesteckt, die den Hals des Revolvermanns hielt. Zuerst fand er nichts, tastete aber langsam mit den Fingern tiefer und berührte schließlich etwas, das sich wie ein steifes Bündel dünner Stangen anfühlte.
Er wartete, sammelte noch etwas Kraft (jede Bewegung bereitete ihm soviel Mühe, als würde er in Leim schwimmen) und tastete noch tiefer. Fühlte sich wie ein Strohblumenstrauß an. Etwas wie ein Band war darum gewickelt.
Roland sah sich um und vergewisserte sich, daß die Station noch verlassen war und Norman schlief, dann zog er hervor, was sich unter dem Kissen befand. Es waren sechs verblassende trockene Halme mit rotbraunen Rispen. Sie verströmten einen seltsamen Hefeduft, bei denen Roland an frühmorgendliche Ausflüge denken mußte, die er als Kind in die Küche hinter dem Großen Saal unternommen hatte, um zu betteln - Ausflüge, die er für gewöhnlich mit Cuthbert unternommen hatte. Die Halme waren mit einem breiten Band aus weißer Seide zusammengebunden und rochen wie verbrannter Toast. Unter dem Band befand sich eine Lage Tuch. Es schien, als wäre das Tuch, wie alles andere an diesem verfluchten Ort, aus
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