Der siebte Schrein
Alex. »Bis die Tsurani uns morgen sagen, daß wir hinausgehen und ihn begraben sollen, machen wir gar nichts.«
»Aber das ist nicht richtig«, sagte Dirk, der Tränen hilfloser Angst unterdrückte.
»Heutzutage ist nichts richtig«, sagte Hemmy und machte die Heutür zu.
Dirk lag auf dem Schober und krümmte sich in einer Kälte, die bitterer als die der Winternacht war.
»Laß mich dir tragen helfen«, sagte Drugen, als Dirk versuchte, die Küchentür mit einem Fußtritt zuzumachen. Der Wind draußen heulte, und dies war Dirks fünfter Ausflug zur Holzkiste gewesen.
Dirk sagte: »Mach bitte die Tür zu.«
Der neue Leibwächter von Lord Paul erfüllte Dirks Bitte, und Dirk sagte: »Danke. Ich muß das in den großen Saal bringen.« Er sputete sich mit dem schweren Bündel Holz und lief durch das große Haus. Er betrat den großen Saal, wo Lord Paul mit seiner Tochter Anika das Abendessen zu sich nahm.
Dirk setzte das neue Feuerholz sehr gründlich auf, gab ihm das doch Gelegenheit, Anika einen Moment vom Kamin aus zu betrachten. Sie war ein Jahr jünger als Dirk. Am letzten Mittsommertag war sie fünfzehn geworden und stellte für den Küchenjungen die Verkörperung von Perfektion dar. Sie hatte feingeschnittene Züge, einen kleinen, leicht geschwungenen Mund, blaue, weit auseinanderstehende Augen und blaßgoldenes Haar. Im Sommer hatte ihre Haut einen leichten Braunton von der Sonne, im Winter war sie makellos rosa. Ihre Figur zeigte erste Reife, war freilich nicht so drall wie die der Küchenfrauen, und sie besaß eine Anmut, wenn sie sich bewegte, bei der Dirks Herz schneller schlug.
Dirk wußte, das Anika nicht einmal seinen Namen kannte, und doch träumte er davon, eines Tages zu Ruhm und Ehren zu kommen und ihre Liebe zu erringen. An jedem Augenblick des Tages sah er ihr Bild vor Augen.
»Stimmt etwas nicht, Holzjunge?« fragte Lord Paul.
»Nein, Herr!« sagte der Junge, stand auf und stieß sich den Kopf am Kaminsims. Das Mädchen hielt beim Lachen die Hand vor den Mund, und er errötete heftig. »Ich habe nur das Holz verstaut. Ich bin fertig, Herr.«
»Dann geh zurück in die Küche, Junge«, sagte der Hausherr.
Lord Paul gehörte zu den Wahlberechtigten der Stadt. Vor der Ankunft der Tsurani hatte Lord Paul an jeder wichtigen Abstimmung in Walinor teilgenommen und war einmal sogar der Delegierte der Stadt für die Generalversammlung der Stimmberechtigten aller Freistädte von Natal gewesen. Er war in jeder Hinsicht einer der wohlhabendsten Männer der Stadt. Er besaß Schiffe, die auf dem Bitteren Meer fuhren, und Landgüter und Besitz im gesamten Westen, ebenso Anlagen im Königreich der Inseln und dem Kaiserreich Groß-Kesh.
Und Dirk hatte sich hoffnungslos in seine Tochter verliebt.
Es spielte keine Rolle, daß sie seinen Namen nicht kannte oder kaum zur Kenntnis nahm, daß er da war - er konnte einfach nicht aufhören, an sie zu denken. In den zwei Wochen seit Hamishs Tod kreisten seine Gedanken unablässig um Anika. Ihr Lächeln, wie sie sich bewegte, wie sie das Kinn neigte, wenn sie zuhörte, wie ihr Vater etwas sagte.
Sie trug nur die erlesensten Kleider, und ihr Haar war immer mit Kämmen aus feinen Knochen oder Muscheln aus dem Bitteren Meer hochgesteckt, oder offen, so daß die Löckchen ihr Gesicht umrahmten. Sie war stets höflich, auch zur Dienerschaft, und besaß die lieblichste Stimme, die Dirk je gehört hatte.
Als er in die Küche zurückkehrte, sagte Jenna, die alte, untersetzte Köchin: »Haben wir einen Blick auf das Mädchen geworfen, ja?«
Drugen lachte, Dirk errötete. Seine Schwärmerei für Lord Pauls Tochter war ein wohlbekannter Anlaß zur Heiterkeit in der Küche. Dirk betete, daß Jenna nichts den anderen Jungs erzählte, denn wenn die Jungs in der Scheune davon erfuhren, würde Dirks ohnehin klägliches Dasein noch schwärzer werden.
»Sie ist ein hübsches Mädchen«, sagte Drugen und lächelte Dirk zu. »Die meisten Männer würden mehr als einen Blick auf sie werfen.«
Dirk mochte Drugen. Er war nur einer von Lord Pauls bewaffneten Männern gewesen, bis Hamish getötet worden war, weil er die Tsurani in der Mittwinternacht gestört hatte. Seitdem war er zu einer festen Größe im Haupthaus geworden, und Dirk hatte mehrfach Gelegenheit gehabt, mit ihm zu reden. Im Gegensatz zu Hamish, der eine Neigung zu Übellaunigkeit besessen hatte, war Drugen ein ruhiger Mann, der kaum etwas sagte, wenn er nicht direkt angesprochen wurde. Er war recht gelassen,
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