Der siebte Schrein
das einzig Verdächtige, das ihm auffiel, wenn man es denn überhaupt so nennen konnte, war die Tatsache, daß sie jedesmal Fragen stellte, wenn sie in ein Dorf kamen, stets abseits von ihm und den anderen, und sofort verstummte, wenn sie ihr zu nahe kamen. Als sie Canluum zwei Tage hinter sich gelassen hatten, stellte sie jedoch keine Fragen mehr. Vielleicht hatte sie in dem Marktflecken Ravinda eine Antwort bekommen, aber wenn ja, schien sie nicht besonders glücklich darüber zu sein. In dieser Nacht fand sie Blasenkrautstauden in der Nähe ihrer Lagerstelle, und zu seiner Schande hätte er beinahe nicht mehr an sich halten können.
Wenn Canluum eine Stadt der Hügel war, dann war Chachin eine Stadt der Berge. Die höchsten ragten fast eine Meile empor, obwohl ihre Spitzen abgeschnitten waren, und auf allen funkelten bunte Ziegeldächer und verklinkerte Paläste in der Sonne. Auf dem höchsten erstrahlte der Palast von Aesdaishar farbenfroher als alle anderen in Rot und Grün, und über seiner höchsten Kuppe flatterte das tänzelnde Rote Pferd. Drei turmbewehrte Mauern umgaben die Stadt ringförmig, ebenso ein tiefer Trockengraben, hundert Schritte breit und mit zwei Dutzend Brücken, die darüber führten, jede mit einer Festung am Ende. Hier war der Verkehr so dicht und die Große Fäule so weit entfernt, daß die Wachen mit dem Roten Pferd auf der Brust nicht so gründlich sein konnten wie in Canluum, aber dennoch dauerte es eine ganze Weile, in dem Gedränge von Wagen und Leuten, die in beide Richtungen unterwegs waren, die Brücke des Sonnenaufgangs zu passieren. Als sie im Inneren waren, zog Lan unvermitttelt die Zügel an.
»Wir sind innerhalb der Mauern von Chachin«, sagte er zu der Frau. »Das Gelübde ist erfüllt. Behaltet Eure Münzen«, sagte er kalt, als sie nach ihrer Börse griff.
Ryne plapperte auf der Stelle etwas von der Beleidigung einer Aes Sedai und entschuldigte sich lächelnd, während Bukama etwas über Männer mit den Manieren von Schweinen murmelte. Die Frau selbst sah Lan derart ausdruckslos an, daß sie tatsächlich hätte sein können, was sie zu sein vorgab. Eine gefährliche Behauptung, wenn sie nicht zutraf. Und wenn sie zutraf . . .
Er riß Katzentänzer herum und preschte die Straße hinauf, so daß Fußgänger und Reiter auseinanderstoben. Bukama und Ryne holten ihn ein, bevor er die halbe Strecke zum Aesdaishar hinauf zurückgelegt hatte. Wenn sich Edeyn in Chachin aufhielt, würde sie dort sein. Bukama und Ryne waren klug genug, ihr Schweigen zu wahren.
Der Palast nahm das gesamte Plateau des Berggipfels ein, ein gewaltiges, leuchtendes Bauwerk mit Kuppeln und hohen Balkonen, das sich über hundert Morgen erstreckte, eine kleine Stadt für sich. Die großen, mit dem Roten Pferd geschmückten Bronzetore standen unter dem rotgekachelten Torbogen offen, und als Lan sich ausgewiesen hatte - als Lan Mandragoran, nicht als al´Lan -, verbeugten sich die bis dahin steifen Wachen lächelnd. Diener in Rot und Grün kamen gelaufen, um ihnen die Pferde abzunehmen und jedem Mann ein Zimmer zuzuweisen, das seinem Rang entsprach. Bukama und Ryne bekamen jeweils ein kleines Zimmer über den Gesindehäusern. Lan wurden drei Zimmer mit Seidengobelins an den Wänden zugewiesen, das Schlafzimmer mit Blick auf einen der Palastgärten, dazu zwei Dienstmägde mit kantigen Gesichtern, die sich um ihn kümmerten, und einen schlaksigen jungen Burschen für Besorgungen.
Durch ein paar vorsichtige Fragen an die Mägde erfuhr er einiges. Königin Ethenielle befand sich auf einer Reise durch das Landesinnere, aber Brys, der Prinzgemahl, war anwesend. Ebenso die Lady Edeyn Arrel. Die Frauen lächelten, als sie das sagten; sie hatten von Anfang an gewußt, was er wollte.
Er wusch sich selbst, ließ sich aber von den Frauen ankleiden. Daß sie Dienerinnen waren, war kein Grund, sie vor den Kopf zu stoßen. Er besaß ein weißes Seidenhemd, dem man noch nicht ansah, wie oft es getragen worden war, und eine gute schwarze Seidenjacke, deren Ärmel Stickereien goldener Blutrosen mit ihren gekrümmten Dornen zierten. Blutrosen für Verlust und Erinnerung. Dann schickte er die Frauen hinaus, damit sie seine Tür bewachten, und wartete. Seine Treffen mit Edeyn mußten in der Öffentlichkeit stattfinden, mit möglichst vielen Menschen ringsum.
Er erhielt eine Aufforderung von ihr, in ihre Gemächer zu kommen, die er nicht beachtete. Die Höflichkeit verlangte, daß man ihm Zeit ließ, sich von seiner Reise
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