Der siebte Schrein
sie sich offenbart hatte. Aber sie schlief noch lange Zeit nicht. Sie mußte über vieles nachdenken. Zunächst einmal hatte keiner gefragt, warum sie ihnen folgte. Der Mann war auf den Füßen gewesen! Als sie einschlief, dachte sie seltsamerweise an Ryne. Ein Jammer, wenn er jetzt Angst vor ihr hatte. Er war reizend, und es störte sie nicht, daß ein Mann sie unbekleidet sehen wollte, nur, daß er es anderen erzählte.
Lan wußte, daß der Ritt nach Chachin einer sein würde, den er gern vergäße, und seine Erwartungen wurden erfüllt. Es stürmte zweimal, eiskalter Regen, mit Hagel vermischt, aber das war noch am ehesten zu ertragen. Bukama war wütend, weil Lan sich weigerte, der kleinen Frau, die von sich behauptete, eine Aes Sedai zu sein, die nötige Achtung zu erweisen, aber Bukama kannte die Gründe dafür und bestand nicht darauf. Er brummte nur jedesmal, wenn er glaubte, daß Lan es hören konnte: Aes Sedai oder nicht, ein anständiger Mann hielt sich an gewisse Umgangsformen. Als hätte er Lans Gründe nicht geteilt. Ryne zappelte und sah sie mit großen Augen an, turtelte und tänzelte und machte Komplimente über »Haut wie reiner Schnee« und »die tiefen, dunklen Seen ihrer Augen«, wie ein verliebter Bengel auf Freiersfüßen. Er schien außerstande, sich zu entscheiden, ob er betört oder verängstigt war, und ließ sie beides sehen. Das an sich wäre schon schlimm genug gewesen, aber Ryne hatte recht gehabt; Lan hatte eine Cairhienin in ihrer Haut gesehen, mehr als eine, und alle hatten versucht, ihn in ein Komplott hineinzuziehen, vielleicht auch zwei oder drei. Über einen besonders denkwürdigen Zeitraum von zehn Tagen hinweg war er im Süden von Cairhien einst sechsmal um ein Haar getötet und zweimal um ein Haar verheiratet worden. Eine Cairhienin und eine Aes Sedai? Eine schlimmere Kombination konnte es nicht geben.
Diese Alys - sie hatte ihnen gesagt, daß sie sie Alys nennen sollten, aber daran zweifelte er ebenso sehr wie an dem Schlangenring, den sie vorzeigte, besonders, nachdem sie ihn wieder im Gürtel verstaut und gesagt hatte, niemand solle erfahren, daß sie eine Aes Sedai war - diese »Alys« hatte Temperament. Normalerweise störte ihn das, ob heiß- oder kaltblütig, weder bei einem Mann noch einer Frau. Aber ihres war eiskalt. In der ersten Nacht hatte er sich ins Nasse gesetzt, um sie wissen zu lassen, daß er akzeptierte, was sie getan hatte. Wenn sie gemeinsam reisen wollten, sollten sie das besser mit ausgeglichenem Konto tun, wie sie es sehen mußte. Aber sie sah es nicht so.
Sie ritten schnell, hielten sich nie lange in einem Dorf auf und schliefen in den meisten Nächten unter den Sternen, weil niemand Geld für ein Gasthaus übrig hatte, nicht für vier Leute mit Pferden. Er schlief, wann immer er konnte. In der zweiten Nacht blieb sie bis zur Dämmerung wach und sorgte dafür, daß er es auch blieb, indem sie jedesmal, wenn er eindöste, heftig an einer unsichtbaren Leine zog. In der dritten Nacht kam irgendwie Sand in seine Kleidung und seine Stiefel, eine dicke Schicht. Er hatte ausgeschüttelt, was er konnte, und ritt den ganzen nächsten Tag auf knirschenden Sandkörnern. In der vierten Nacht . . . Er konnte nicht verstehen, wie es ihr gelang, dafür zu sorgen, daß Ameisen in seine Unterwäsche krochen und obendrein alle gleichzeitig zubissen. Aber es war ganz sicher ihr Tun. Sie stand über ihm, als er die Augen aufriß, und schien überrascht zu sein, daß er nicht schrie. Sie wollte eindeutig eine Art Antwort, eine Reaktion, aber welche, das war ihm nicht klar. Ganz sicher nicht das Gelübde, sie zu beschützen. Das von Bukama genügte, und außerdem hatte sie ihnen Geld gegeben. Die Frau merkte nicht einmal, wenn sie beleidigend wurde.
Als sie sie zum erstenmal hinter sich gesehen hatten, wie sie der Karawane der Kaufleute und dem Schutz ihrer Wachen davonritt, hatte Bukama einen Grund genannt, warum eine Frau allein drei Männern folgen sollte. Wenn sechs Schwertkämpfer einen Mann nicht bei Tage töten konnten, schaffte es eine Frau vielleicht in der Nacht. Natürlich hatte Bukama Edeyn mit keinem Wort erwähnt. In Wahrheit konnte es das ganz eindeutig nicht sein, sonst wäre er jetzt schon tot, nicht nur gepeinigt, aber Alys gab nie eine Erklärung ab, sosehr Bukama auch auf eine wartete. Edeyn mochte ihm eine Frau schicken, um ihn zu beobachten, weil sie glaubte, daß er dann nicht so wachsam sein würde. Und daher behielt Lan sie im Auge. Aber
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