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Der siebte Schrein

Der siebte Schrein

Titel: Der siebte Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Manche kamen von den Seiten hinzugeeilt, während andere sich entfernten. Manche ruderten mit den Armen und sprachen dabei mit großem Nachdruck. So viele redeten durcheinander, daß Abby kaum ein Wort verstehen konnte. Gleichzeitig beugten sich andere näher und flüsterten beinahe. Sie kam sich vor wie in einem menschlichen Bienenstock.
    Abbys Aufmerksamkeit wurde auf eine Gestalt in Weiß auf einer Seite gelenkt. In dem Moment, als sie das lange Haar und die violetten Augen erblickte, die sie direkt ansahen, erstarrte Abby. Ein leiser Aufschrei entrang sich ihrer Kehle, während sie sich gleichzeitig auf die Knie fallen ließ und sich verbeugte, bis ihr der Rücken weh tat. Sie bebte und zitterte und rechnete mit dem Schlimmsten.
    In dem Moment, bevor sie auf die Knie gesunken war, hatte sie gesehen, daß das elegante weiße Satinkleid am Hals quadratisch ausgeschnitten war, genau wie es bei den schwarzen Kleidern gewesen war. Der lange weiße Haarschopf ließ keinerlei Zweifel aufkommen. Abby hatte die Frau nie vorher gesehen, wußte aber ohne Zweifel, wer sie war. Diese Frau konnte man nicht verwechseln. Nur eine von ihnen trug das weiße Kleid.
    Es war die Mutter Konfessorin persönlich.
    Sie hörte ein Murmeln über sich, wagte aber nicht, ihm zuzuhören, falls der Tod auf sie herabbeschworen wurde.
    »Steh auf, mein Kind«, sagte eine deutliche Stimme.
    Abby wußte, es war die förmliche Antwort der Mutter Konfessorin an jemand von ihrem Volk. Es dauerte einen Moment, bis Abby begriff, daß sie keine Drohung bedeutete, sondern lediglich eine Zurkenntnisnahme. Sie starrte einen Blutfleck auf dem Boden an, während sie überlegte, was sie als nächstes tun sollte. Ihre Mutter hatte ihr nie beigebracht, wie sie sich verhalten mußte, sollte sie jemals der Mutter Konfessorin begegnen. Soweit sie wußte, hatte niemand aus Coney Crossing die Mutter Konfessorin je gesehen, geschweige denn kennengelernt. Andererseits hatte auch noch nie jemand von ihnen einen Zauberer getroffen.
    Über ihr ertönte das geflüsterte Knurren der Hexenmeisterin. »Steh auf.«
    Abby rappelte sich auf, ließ den Blick aber auf den Boden gerichtet, obwohl der Blutfleck sie mit Übelkeit erfüllte. Sie konnte das Blut riechen, als sei eins ihrer Tiere frisch geschlachtet worden. Der langen Spur nach zu urteilen war der Leichnam zu einer der Türen an der rückwärtigen Wand des Raums geschleift worden.
    Die Hexenmeisterin sprach gelassen in dem Chaos. »Zauberer Zorander, das ist Abigail, geboren von Heisa. Sie wünscht, mit Euch zu reden. Abby, das ist der Erste Zauberer Zeddicus Zu´l Zorander.«
    Abby wagte zaghaft, den Blick zu heben. Mandelbraune Augen sahen sie an.
    Rechts und links von ihr standen jede Menge Menschen: große, abschreckende Offiziere - einige sahen aus wie Generäle; mehrere ältere Männer in Gewändern, einige schlicht, andere reich verziert; mehrere Männer mittleren Alters, teils in Gewändern und teils in Livree; drei Frauen - alle Hexenmeisterinnen; eine Vielzahl anderer Männer und Frauen und die Mutter Konfessorin.
    Der Mann im Zentrum des Aufruhrs, der Mann mit den mandelbraunen Augen, war nicht das, was Abby erwartet hatte. Sie hatte einen zotteligen, grimmigen alten Mann erwartet. Dieser Mann war jung - vielleicht nicht älter als sie. Er war schlank und sehnig und trug ein schlichtes Gewand, kaum besser als Abbys Leinwandbeutel - das Kennzeichen seines hohen Amtes.
    Einen solchen Mann hatte Abby nicht in einem Amt wie dem des Ersten Zauberers erwartet. Sie erinnerte sich daran, was ihre Mutter ihr gesagt hatte - den eigenen Augen nicht zu trauen, wenn es um Zauberer ging.
    Ringsum sprachen Leute auf ihn ein, stritten mit ihm, ein paar brüllten sogar, aber der Zauberer schwieg und sah ihr in die Augen. Sein Gesicht war durchaus angenehm anzuschauen, von sanftem Äußeren, auch wenn sein lockiges braunes Haar aussah, als wäre es nicht zu bändigen, aber seine Augen . . . Abby hatte niemals derartige Augen gesehen. Sie schienen alles zu sehen, alles zu wissen, alles zu verstehen. Gleichzeitig waren sie blutunterlaufen und erschöpft, als würde es ihm an Schlaf mangeln. Auch konnte man eine Spur Kummer darin erkennen. Dennoch war er die Ruhe im Zentrum des Sturms. In dem Moment, in dem ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit galt, schien es, als wäre sonst niemand in dem Raum.
    Die Haarlocke, die der Adlige sich um den Finger gewickelt hatte, zierte nun einen Finger des Ersten Zauberers. Er führte sie an die

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