Der siebte Schrein
Lippen, ehe er den Arm sinken ließ.
»Man hat mir gesagt, du bist die Tochter einer Hexenmeisterin.« Seine Stimme war ein ruhiges Gewässer, das durch den Tumult ringsum floß. »Besitzt du die Gabe, Kind?«
»Nein, Herr . . .«
Noch während sie antwortete, wandte er sich einem anderen zu, der soeben aufgehört hatte zu sprechen. »Ich habe gesagt, wenn wir das machen, laufen wir Gefahr, sie zu verlieren. Schickt die Botschaft! Ich wünsche, daß er nach Süden aufbricht.«
Der hochgewachsene Offizier, den der Zauberer angesprochen hatte, hob die Arme. »Aber er hat gesagt, er besitzt zuverlässige Informationen, wonach die D´Haraner von ihm aus nach Osten ziehen.«
»Darum geht es nicht«, sagte der Zauberer. »Ich möchte, daß der Paß nach Süden abgeriegelt wird. Dahin ist ihre Hauptstreitmacht unterwegs; sie haben Begabte bei sich. Das sind die, die wir töten müssen.«
Der hochgewachsene Offizier salutierte, indem er die Faust auf das Herz legte, während sich der Zauberer einer alten Hexenmeisterin zuwandte. »Ja, ganz recht, drei Beschwörungen, bevor wir die Umstellung versuchen. Ich habe den Hinweis darauf gestern nacht gefunden.«
Die Hexenmeisterin entfernte sich und machte einem Mann Platz, der in einer fremden Sprache plapperte, während er eine Schriftrolle ausbreitete und hochhielt, damit der Zauberer sie sehen konnte. Der Zauberer betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen, las einen Moment und winkte den Mann fort, während er Anweisungen in derselben fremden Sprache gab.
Der Zauberer wandte sich an Abby. »Du bist eine Übersprungene?«
Abby spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde und ihre Ohren brannten. »Ja, Zauberer Zorander.«
»Kein Grund, sich zu schämen, Kind«, sagte er, während die Mutter Konfessorin ihm vertraulich ins Ohr flüsterte.
Aber es war doch etwas, dessen man sich schämen mußte. Die Gabe war nicht von ihrer Mutter auf sie übertragen worden - sie hatte sie übersprungen.
Die Menschen von Coney Crossing waren von Abbys Mutter abhängig gewesen. Sie hatte denen geholfen, die krank oder verletzt waren. Sie hatte die Leute in Fragen der Gemeinschaft und der Familie beraten. Für einige hatte sie Hochzeiten arrangiert. Für manche bestimmte sie ein Strafmaß. Manchen erwies sie Gefälligkeiten, die nur durch Magie bewerkstelligt werden konnten. Sie war eine Hexenmeisterin; sie hatte die Leute von Coney Crossing beschützt.
Sie wurde öffentlich verehrt. Von manchen wurde sie insgeheim gefürchtet und verabscheut.
Sie wurde verehrt für das Gute, das sie den Menschen von Coney Crossing tat. Von manchen wurde sie gefürchtet und verabscheut, weil sie die Gabe hatte - weil sie die Magie beherrschte. Andere wollten nichts so sehr, wie ihr Leben ohne Magie zu leben.
Abby besaß keine Magie und konnte weder bei Krankheit noch bei Verletzungen noch bei unbestimmten Ängsten helfen. Sie wünschte sich von Herzen, sie hätte es gekonnt, aber sie konnte es nicht. Als Abby ihre Mutter gefragt hatte, warum sie die ganze undankbare Ablehnung ertrug, hatte ihre Mutter ihr geantwortet, daß es Lohn genug war, zu helfen, und man keine Dankbarkeit dafür erwarten sollte. Sie sagte, wenn man durch das Leben gehe und Dankbarkeit für die Hilfe erwarte, die man anderen zuteil werden lasse, führe man am Ende wahrscheinlich ein erbärmliches Leben.
Als ihre Mutter noch am Leben war, war Abby auf subtile Weise geschnitten worden; nach dem Tod ihrer Mutter schnitt man sie ganz unverhohlen. Die Leute in Coney Crossing hatten erwartet, daß sie ihnen dienlich sein würde, wie ihre Mutter ihnen dienlich gewesen war. Die Menschen verstanden nichts von der Gabe, und daß sie häufig nicht an einen Nachkommen weitergegeben wurde; statt dessen hielten sie Abby für egoistisch.
Der Zauberer erklärte einer Hexenmeisterin etwas darüber, wie man einen Bannfluch sprach. Als er fertig war, glitt sein Blick auf der Suche nach jemand anders über Abby. Sie brauchte seine Hilfe, und zwar jetzt.
»Was wolltest du mich fragen, Abigail?«
Abbys Finger packten den Sack fester. »Es geht um meine Heimat Coney Crossing.« Sie machte eine Pause, während der Zauberer in ein Buch deutete, das ihm hingehalten wurde. Er winkte ihr mit der Hand und bedeutete ihr, daß sie fortfahren sollte, während ein Mann etwas Kompliziertes erklärte, das damit zu tun hatte, wie man einen Doppelfluch ins Gegenteil verkehrte. »Die Lage dort ist schrecklich«, sagte Abby. »Truppen aus D´Hara haben die Grenze
Weitere Kostenlose Bücher