Der siebte Schrein
machte einen Knicks. »Danke, daß Ihr mich empfangt, Zauberer Zorander. Es ist lebenswichtig, daß Ihr mir helft. Wie ich schon sagte, steht das Leben unschuldiger Kinder auf dem Spiel.«
Zauberer Zorander schaute endlich hoch. Als er sie eine ganze Weile angesehen hatte, richtete er sich auf. »Wo liegt die Trennlinie?«
Abby sah die Hexenmeisterin auf ihrer einen und danach die Mutter Konfessorin auf der anderen Seite an. Keine erwiderte den Blick.
»Pardon, Zauberer Zorander? Die Trennlinie?«
Der Zauberer runzelte finster die Stirn. »Du deutest an, daß ein Leben aufgrund geringeren Alters einen höheren Wert besitzt. Die Trennlinie, mein liebes Kind, ab wo der Wert eines Lebens geringer wird. Wo ist diese Trennlinie?«
»Aber ein Kind -«
Er hielt mahnend einen Finger hoch. »Glaub nicht, daß du meine Gefühle ansprechen kannst, indem du mir mit dem Wert des Lebens eines Kindes kommst, als könnte man dem Leben in bestimmten Altersstufen einen höheren Stellenwert beimessen. Wann ist das Leben weniger wert? Wo liegt die Trennlinie? Bei welchem Alter? Wer entscheidet das?
Jedes Leben ist kostbar. Tot ist tot, in welchem Alter auch immer. Glaub nicht, daß du meine Vernunft ausschalten kannst, indem du abgebrüht und berechnend an meine Gefühle appellierst wie ein gewissenloser Amtsinhaber, der die Leidenschaft eines hirnlosen Mobs aufwühlt.«
Abby reagierte sprachlos auf diese Standpauke. Der Zauberer richtete seine Aufmerksamkeit auf die Mutter Konfessorin.
»Da wir gerade von Bürokraten sprechen - was hatte der Rat zu sagen?«
Die Mutter Konfessorin verschränkte die Hände und seufzte. »Ich habe ihnen deine Worte übermittelt. Offen gesagt, es war ihnen egal. Sie wollen, daß es getan wird.«
Er grunzte unzufrieden. »Tatsächlich, ja?« Er richtete den Blick auf Abby. »Sieht so aus, als wäre dem Rat selbst das Leben von Kindern gleichgültig, wenn es Kinder aus D´Hara sind.« Er strich sich mit einer Hand über die müden Augen. »Ich kann nicht sagen, daß ich ihre Beweggründe nicht verstehen würde oder uneins mit ihnen bin, aber bei allen guten Geistern, sie sind nicht diejenigen, die es tun müssen. Es wird nicht von ihrer Hand geschehen. Sondern von meiner.«
»Ich verstehe das, Zedd«, murmelte die Mutter Konfessorin.
Wieder schien er Abby, die vor ihm stand, zur Kenntnis zu nehmen. Er sah sie an, als würde er ein gewichtiges Thema wälzen. Sie wurde ganz zappelig. Er streckte die Hand aus und winkte mit dem Finger. »Dann laß sehen.«
Abby kam näher und streckte dabei die Hand in den Sack.
»Wenn man Euch nicht überreden kann, unschuldigen Menschen zu helfen, wird Euch das vielleicht etwas mehr sagen.«
Sie holte den Schädel ihrer Mutter aus dem Sack und legte ihn auf die Handfläche des Zauberers. »Es ist eine Knochenschuld. Ich erkläre sie hiermit für fällig.«
Eine Braue wurde hochgezogen. »Es ist üblich, nur einen winzigen Knochensplitter mitzubringen, Kind.«
Abby spürte, wie sie rot wurde. »Das wußte ich nicht«, stammelte sie. »Ich wollte sicher sein, daß es für die Prüfung ausreicht . . . sicher sein, daß Ihr mir glauben würdet.«
Er strich mit einer Hand sanft über den glatten Schädel. »Ein Stück, das kleiner als ein Sandkorn ist, reicht aus.« Er sah Abby in die Augen. »Hat dir deine Mutter das nicht gesagt?«
Abby schüttelte den Kopf. »Sie sagte nur, daß es eine Schuld ist, die von Eurem Vater an Euch weitergegeben wurde. Sie sagte, daß die Schuld beglichen werden muß, wenn sie für fällig erklärt wird.«
»Das stimmt wirklich«, flüsterte er.
Während er sprach, strich er mit der Hand über den Schädel hin und her. Der Knochen war stumpf und fleckig von der Erde, wo Abby ihn ausgegraben hatte, und nicht so blütenweiß, wie sie es sich vorgestellt hatte. Ihr hatte davor gegraust, die Gebeine ihrer Mutter auszugraben, aber vor der Alternative grauste ihr noch mehr.
Unter den Fingern des Zauberers erstrahlte der Schädel in einem weichen, bernsteinfarbenen Licht. Abby blieb fast das Herz stehen, als ein Summen die Luft erfüllte, so als würden die Geister selbst mit dem Zauberer flüstern. Die Hexenmeisterin machte sich an den Perlen an ihrem Hals zu schaffen. Die Mutter Konfessorin biß sich auf die Unterlippe. Abby betete.
Zauberer Zorander legte den Schädel auf den Tisch und wandte ihnen den Rücken zu. Das bernsteinfarbene Leuchten erlosch.
Da er nichts sagte, brach Abby das bedrückende Schweigen. »Und? Seid Ihr
Weitere Kostenlose Bücher