Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
alles geweht. Sie zeichnete ihre Fußspuren nach, als sie auf das Haus zugingen.
Der Eingang wartete stumm und düster. Es gab keine Tür mehr, die ihn verschloss; Pipa stieß einen kleinen erschreckten
Laut aus, als sie sie quer über dem Weg liegen sah. Die Angeln waren ihr herausgerissen worden. Das mächtige Türblatt war von einem Riss gespalten. Im Vorbeigehen ahnte Mina vage Reste von gemalten Verzierungen auf dem verzogenen Holz, Blüten, Ranken. Schwach und blass wie Elfenschrift jetzt, kaum noch zu erkennen. Und doch sprach so viel vergangene Zuneigung aus ihnen, dass Minas Kehle trocken wurde.
Rosa führte sie beide um die Tür herum, aber sie ging nicht gleich auf den Eingang zu. Ein paar Schritte weiter bog sie vom Weg ab, dorthin, wo die Reste eines Ziehbrunnens die Sicht auf das Haus verstellten - und den Blick vom Haus auf die drei Mädchen. Einmal hatte er sein eigenes kleines Dach gehabt. Man konnte noch den gezimmerten Giebel sehen. Hier hatten die Tauben gesessen, an warmen Sommernachmittagen …
Rosa sah Mina mit ernsten Augen an.
»Ich glaube, wir sollten erst versuchen, ob wir nicht etwas von außen erkennen können, durch die Fenster. Pipa hat Recht, ein Pug ist klein, aber stark. Vielleicht können wir sehen, wo er schläft oder sein Lager hat. Dann könnten wir uns von draußen bemerkbar machen. Klopfen. Vielleicht fühlt er sich dann weniger gestört, als wenn wir einfach hineingehen.«
Mina überlegte nur kurz. Rosa hatte Recht. Es war entsetzlich unhöflich, ungebeten und unangekündigt in irgendjemandes Heim einzudringen, selbst wenn es nur einer Art Hausgeist gehörte. Wieder nickte sie, und Rosa zog sie beide vom Brunnen weg, auf eine Hausecke zu. Pipa ging jetzt schneller, wie erleichtert, fürs Erste dem finsteren Eingang entkommen zu sein.
Aber die tiefliegenden Fensterhöhlen gestatteten ihnen keinen Blick ins Innere, obwohl sie leer waren. Als sie sich vorsichtig an die nächste heranwagten, starrte die Dunkelheit sie aus dem Haus heraus an; sie schien so dicht in den Räumen zu liegen, dass sie nicht einmal Schemen erkennen konnten, trotz des Mondlichts. Beim zweiten Fenster war es nicht anders, und auch beim dritten nicht, obwohl Mina so dicht heranging, dass sie den schalen Luftzug aus dem Inneren spürte.
»Nein«, flüsterte Rosa schließlich entmutigt, als sie schon auf der Rückseite angekommen waren, »so geht es nicht. Wenn wir sinnlos einfach irgendwo gegen die Mauer schlagen, wird ihm das nicht besser gefallen, als wenn wir gleich hineingehen. Wahrscheinlich sogar noch weniger. Was meinst du, Mina? - Pipa, komm zurück!«
Mina wandte sich um, und erst jetzt sah sie, dass Pipa sich von ihrer Schwester losgemacht hatte und mit schnellen kleinen Schritten durch den verdorrten Garten ging.
»Warte«, hörte sie ihre Stimme schwach, »wartet einen Augenblick. Ich bin gleich zurück.«
»Läuft sie weg?«, fragte Rosa, und Mina hob die Schultern. Es sah eigentlich nicht danach aus. Pipa war schon wieder stehen geblieben, ein blasser, schlanker Umriss im Dunst. Sie beugte sich über etwas, das vielleicht einmal zwei steinerne Pfosten einer niedrigen Pforte gewesen waren. Die Pforte selbst gab es nicht mehr; aber man konnte sich noch vorstellen, wie sie den Eingang zum Blumengarten behütet hatte, zu den schönen, nutzlosen Beeten, die sich nur die reichen Bauersfrauen leisteten. Blumen konnte man nicht essen. Und doch, wie stolz wurden sie gehegt, wenn sie es
einmal geschafft hatten, sich ein Fleckchen Garten zu erobern.
Pipas Flüstern wischte die Bilder fort.
»Du bist dumm, Rosa«, sagte sie, noch ehe sie wieder ganz bei ihnen war. »Dumm wie eine Gadsche.«
Ihre Augen waren nicht mehr so rund wie zuvor, sie lachte sogar ein wenig, als sie sich vor ihre Schwester hinstellte.
»Hast du eigentlich ganz vergessen, wer wir sind? Nur die Gadsche kommen durch den Vordereingang. Das ist was für feine Leute. Nicht für uns. Wir gehen hintenrum. Und hintenrum«, sie nickte mehrmals zur Bekräftigung, »hintenrum sind wir auch schon gegangen.«
»Was redest du denn da?« Rosa schüttelte den Kopf. »Sind wir schon gegangen? Ich bin noch nie hier gewesen, und du auch nicht, Pipadscha.«
»Doch. Ich meine«, Pipa verdrehte die Augen, »nicht wir, natürlich. Aber andere von uns. Ich habe die Zinken gefunden. Sie sind nicht mehr gut zu lesen, aber ich glaube, sie sagen, dass wir hier willkommen sind.«
Eine vage Erinnerung schob sich vor Minas Augen, wurde langsam
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