Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
klarer. Eingekratzte Linien auf dem Steinpfosten am Gutshaus-Tor …
Sie zupfte Rosa am Ärmel, legte die Stirn in fragende Falten. Rosa stutzte.
»Was, Mina? Ah, die Zinken?« Sie lächelte entschuldigend. »Natürlich, du kannst nicht wissen, was Pipa meint. Es sind nur Zeichen - Zeichen von anderen Tatern, die vor uns hier waren. Wie Briefe, aber sie halten länger und müssen nicht geschickt werden. Und man muss nicht lesen können, um sie zu verstehen. Wir hinterlassen sie an Häusern oder an Wegmarken, Gabelungen, Kreuzungen. Sie können
eine Richtung anzeigen, in der die anderen gezogen sind, oder etwas über das Haus erzählen, an dem sie angebracht sind. Manchmal sagen sie, wer da war, oder wie viele, und wohin sie von dort aus gegangen sind. Manchmal sind sie nur irgendein Hinweis. Oder eine Warnung. Es gibt viele davon, sehr viele. Nicht alle werden gemalt oder gekratzt.«
»Die älteren«, sagte Pipa wichtig, »sind aus Stöcken und Zweigen und Steinen. Nur Lilja und Nad können sie noch lesen. Wir erneuern sie, wenn wir welche finden. Patrin, sagen manche Leute dazu. Wenn man überhaupt etwas dazu sagt.«
Patrin … Mina rollte das Wort auf der Zunge hin und her. Es schmeckte nach Wald und nach Geheimnis.
»Aber die da drüben«, sagte Pipa und nickte zu den Pfosten hin, »das sind jüngere, mit einem scharfen Stein gekratzt. Verblasst zwar, aber sie sind noch da. Und sie sagen, dass Tater willkommen sind.«
Das Bild von den Linien am Torpfosten stand immer noch klar hinter Minas Stirn. Es zuckte sie in den Füßen, hinüberzugehen und zu schauen, ob es wohl die gleichen Zeichen waren, die unbekannte Tater hier hinterlassen hatten. Aber der Gedanke verschwand betrübt, als ihr einfiel, wie Mamsell über das fahrende Volk redete, mit hochgezogenen Brauen und verkniffenem Mund. Kein Tater, der seinen Verstand beisammenhatte, würde Willkommenszinken am Gutshaus eingekratzt haben. Und schon gar nicht an der Vordertür.
Neben ihr legte Rosa den Kopf schief.
»Bist du sicher, Pipa? Und selbst wenn … Die Menschen, denen sie gegolten haben, leben nicht mehr hier, das siehst du doch.«
Pipa zuckte die Schultern. »Aber sie sind da, und das Haus weiß, dass sie da sind.«
»Trotzdem …«
»Das sagst du nur, weil ich sie gefunden habe!« Pipa stampfte mit dem Fuß auf. Die trockene Erde knirschte. In der dunstigen Stille war das Geräusch sehr laut.
»Hör auf!« Rosa packte sie am Arm. »Er hört dich noch! - Mina, was meinst du?«
Mina verjagte die Bilder und drehte sich zum Haus um. Es gab so etwas wie einen Hintereingang auf dieser Seite. Er war schwer zu erkennen, weil etwas, das einmal eine überdachte Veranda gewesen sein mochte, an dieser Stelle vorsprang und faulende Balken wie wirres Gesträuch die Sicht verdeckten. Aber da war eine zweite große Öffnung in der Mauer, auch sie ohne eine Tür.
Sie wusste nicht viel über Bauernhäuser, und auch nicht viel über Hintereingänge. Im Gutshaus gab es die geduckte Tür im Erdgeschoss, die in die Küche führte. Die Mädchen und Burschen benutzten sie, die Lieferanten. Und Pipa hatte Recht: Auch die Bettler und Hausierer, das fahrende Volk, kamen an diese Tür. War der Eingang hinter der Veranda hier so etwas wie die Küchentür im Gutshaus?
Mina merkte, dass Rosa sie immer noch ansah. Sie nickte schließlich; was konnte sie anderes tun? Sie war hergekommen, um in das Haus zu gehen. Ob nun durch die Hintertür oder durch den Vordereingang, ob mit oder ohne geheimnisvolle Zinken und Zeichen - einmal musste sie es doch tun.
Aber schon, als sie die Füße auf das setzte, was einmal der Boden der Veranda gewesen war, als sie das Knacken hörte, mit dem das verzogene Holz sich bog und zurücksprang,
fühlte sie sich unsicher werden. Das Geräusch war so laut, so scharf.
Mina ging auf Zehenspitzen weiter.
Etwas lag verkeilt auf dem Boden im Hintereingang, sie sah es erst, als sie beinahe darauftrat. Es war groß und flach und rund, wie es schien; eine Scheibe oder ein Reifen? Behutsam stieg sie darüber. Direkt dahinter fiel der Schatten des Türsturzes über sie, und das Haus atmete ihr dumpf ins Gesicht.
Sie drehte sich um, um den anderen das seltsame runde Ding zu zeigen. Irgendwie kam es ihr so vor, als wäre es besser, nicht dagegenzustoßen. Pipa, die sich an Rosa vorbeigeschoben hatte, als müsste sie ihre Entdeckung im Garten bekräftigen, indem sie mutig voranging, hob den Kopf und sah zu ihr hinüber.
»Bist du schon drin?«,
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