Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
sie schrie beinahe:
»Vergesst die Zinken, Mina, komm da weg! Ganz gleich, was sie sagen, du bist keine Taterin, und er weiß es! Er weiß es, Mina!«
Ein Kältestoß fuhr durch Minas Körper. Sie riss die Hand vom Holz, Splitter fuhren ihr unter die Haut. Im selben Moment packte etwas von hinten ihren langen Rock.
»Mina!«, kreischte Pipa. »Ich kann ihn sehen, Mina! Lauf! Lauf!«
Minas Lippen wurden taub vor Angst. Sie warf sich nach vorn, achtete nicht darauf, wohin sie fallen würde. Der modernde Holzboden flog auf ihr Gesicht zu; als sie aufschlug, gab es einen heftigen Ruck, der Stoff ihres Kleides jammerte knirschend auf, und mit einer einzigen, mächtigen Bewegung wurde sie nach hinten ins Dunkle gerissen.
Die Stille zerbarst in tausend Splitter von entsetzlichem, ohrenbetäubendem Lärm. Pipas und Rosas Schreie stachen spitz daraus hervor, Mina hörte sie noch, während sie auf dem Bauch in den beißenden Rauchgestank gezerrt wurde. Schatten bewegten sich um sie her, über ihr, prallten krachend
gegen Wände, schlugen Putzstücke auf sie herunter. Sie krallte sich in den brüchigen Boden, klammerte die Finger in schneidende Spalten; schrie lautlos auf vor Schmerz, als der unerbittliche Zug sie wieder herausriss. Etwas landete hart und schwer auf ihrem Rücken. Sie versuchte, sich herumzuwerfen, Kanten bohrten sich in ihre Rippen, als das Ding von ihr herunterpolterte. Fassungslos sah sie im Licht vom Eingang, dass es ein verkohlter Stuhl mit gebrochenen Beinen war.
Ihre Hüfte schrapte an einem Durchgang entlang, wieder versuchte sie, Halt zu finden. Im letzten Moment sah sie den breiten, schwarzen Schemen, der aus dem Nichts auf sie zu schwang, und zog die Finger vor der Tür zurück, die krachend zuschlug.
Der Lärm umtoste sie. Verzweifelt strampelte sie mit den Beinen, trat um sich, ohne etwas zu treffen. Der rasende Zug ließ sie nicht los. Wie Blitze zischten hellere Fensteröffnungen vorbei, weit, viel zu weit entfernt; irgendwo in der namenlosen Furcht verstand sie, dass sie durch den Flur geschleift wurde. Überall polternde, tanzende Schemen, Krachen und Bersten von Holz, von Steinen. Der Rauchgeruch bohrte sich in ihren Kopf, nahm ihr die Luft. Und noch immer wurde sie weitergezogen.
Sie keuchte, der Hals brennend von unhörbaren Schreien. Es war keine Kraft mehr in ihren Armen, ihren Beinen. Trotzdem versuchte sie wieder, sich herumzudrehen, verwickelte sich in ihr Kleid, spürte die Kordel des Bündels auf ihrem Rücken sich spannen und reißen. Die Spieluhr! Der Gedanke gleißte durch den Lärm und die Angst. Die Spieluhr! Sie durfte sie nicht verlieren!
Eine leere Türöffnung sauste vorbei, im letzten Moment
warf Mina die Arme zur Seite und klemmte sich mit den Ellenbogen darin fest. Es fühlte sich an, als würde sie mittendurch gerissen. Ihr Kleid kreischte auf, schrill wie eine Katze; dann gab der entsetzliche Zug sie plötzlich frei, und sie warf sich herum und umklammerte das Bündel mit beiden Armen.
Eine Stimme sprach aus dem Tosen und Poltern zu ihr; eine Stimme, so brüchig wie das Holz, so kalt wie die Steine und so alt wie der Mond. Sie verstand die Worte nicht; es konnte keine menschliche Sprache sein, so zischend und fauchend, so knarrend und knackend waren die Laute. Aber was sie sagte, brauchte keine Worte. Mina drückte sich an die Wand und kauerte sich so eng wie möglich zusammen, das Bündel an der Brust geborgen.
Hass. Hass auf das Menschending, den Eindringling, den Störenfried. Hass auf den Geruch ihrer Haut, das Geräusch ihres Atems. Hass auf das Menschenblut, das in ihren Adern wild pochte, Hass auf die Menschenblicke, die sie in die Dunkelheit warf, die alles beschmutzten, verseuchten, vergifteten. Hass.
In ihren Gedanken schrie und bettelte Mina lautlos. Ich gehe, sofort, wenn du mich nur lässt! Wenn du mich nur wieder aus diesem furchtbaren Haus entkommen lässt, diesem irrsinnigen Toben! Wenn du mich am Leben lässt!
Aber der Hass hatte keine Ohren für ihr Flehen. Etwas, das wie eine halbverbrannte Kommode aussah, mit einem einzigen, zierlich geschwungenen Bein, das bizarr hervorragte, krachte dicht neben ihr gegen die Wand, Splitter und Putz zerkratzten ihr das Gesicht. Noch ein Stuhl, der im Zimmer dort vorne durch die Luft flog, leuchtend weiß angestrahlt in dem Moment, als er am steinernen Fensterkreuz
zerbrach. Teile von Regalbrettern, von der Hitze verkrümmt und verbogen, die unter der Zimmerdecke im Kreis wirbelten, bevor sie
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