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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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nur noch die Stille in den Wänden, und Mina und das Haus holten gemeinsam zitternd Luft.
    »Fasss nich aan«, kam es von irgendwoher, und Mina zog
rasch die Hand zurück, die sie nach dem armseligen Vogelkörper ausgestreckt hatte. »Fasss nich aan …«
    Hinter ihr im Flur knarrten die überanstrengten Dielen. Mina drehte sich nicht um.
    »Guckk, guckk, Gevvatter …«
    Die Stimme war tief und brüchig, und Mina erkannte sie mit einem Schaudern. Jetzt hat er mich, fuhr es ihr durch den Kopf, aber der Gedanke war schwach und merkwürdig unaufgeregt unter dem Weh, das sie fühlte, wenn sie den toten Vogel ansah. Dass sie immer so daliegen mussten, so ohne jede Hoffnung …
    Sie krümmte sich wieder über ihrem Bündel zusammen, wartete, bebte. Eine neue Träne tropfte in einen Fliesensprung.
    »Guckk, guckk nurr …«
    Es war ein Finger, der sich auf dem Boden in ihr Blickfeld stahl. Ein dunkler, krummer Finger, klein wie von einer Kinderhand. Er schob sich auf dem Sprung entlang und berührte die Träne, die immer noch dort lag, schimmernd, wie ein gefrorener Tautropfen.
    »Guckk …«
    Nun sah Mina die ganze Hand. Sie zitterte leicht, während sie sich bewegte, wie bei einem sehr alten Menschen. Und trotzdem berührte sie die Träne so leicht, dass sie nicht zerplatzte, als sie auf die runzlige Handfläche rollte.
    Minas Kopf dröhnte in der plötzlichen Lautlosigkeit. Sie saß so still, wie sie nur konnte.
    Ein Arm tauchte langsam auf, ein nackter, kohlschwarzer Arm, als die Hand weiter über die Fliesen strich, dorthin, wo die erste Träne gefallen war. Und auch sie lag immer noch in einer Fuge, rund und unversehrt.

    Minas Augen weiteten sich.
    Das Knarren und Zischen der Stimme verstummte, aber in ihrem Kopf hörte Mina sie weiter. Es waren keine menschlichen Worte mehr; sie hätten nicht ausgereicht für das, was gesagt wurde. Staunen, das die scharfen Spitzen des Hasses zudeckte wie Schnee einen eisernen Zaun. Kummer, der darunterfloss, endlos und kalt wie der Fluss. Mit den unhörbaren Lauten strömte er in Minas Seele.
    Die dritte Träne rollte über ihre Wange nach unten. Bevor sie auf den Boden traf, fing Mina sie auf. Sie hielt es einen Augenblick, das runde Schimmern, das nicht in den Falten ihrer Hand zerlief; meinte sogar, etwas wie eine glasfeine Haut zu spüren, die das Gebilde umgab.
    Die brüchige Stimme flüsterte in ihrem Kopf.
    Man kann den Pug verkaufen nur um einen geringeren Preis, als man selbst für ihn bezahlt hat …
    Und wenn man nichts bezahlt hatte? Und wenn es keinen Käufer gab?
    Sie ließ die Hand sinken, bis der Rücken die kühlen, staubigen Fliesen berührte. Die Träne lag ganz still. Sie bewegte sich erst ein wenig, als Mina langsam nickte.
    Was war weniger als nichts, und gleichzeitig wertvoll genug, um ein Leben voller Schmerz aufzuwiegen?
    Der krumme, runzlige Finger berührte ihre Haut, so leicht, dass sie nicht hätte sagen können, ob er warm oder kalt war, spröde oder weich. Sie atmete tief ein, als sie die Hand vorsichtig drehte. Die Träne rollte in die dunkle, offene Handfläche, zu den anderen beiden, und als sie aufeinandertrafen, hörte Mina ein schwaches Klingeln, wie von gläsernen Glöckchen.
    Die Feuchtigkeit in ihren Augen trocknete. Ihre Gesichtszüge
wurden starr. Ein Schluchzen, das noch in ihrer Kehle steckte, zerfaserte und wehte lautlos davon. Sie fühlte keinen Schmerz.
    Diese Dinge haben immer einen Preis.
    Mina schluckte trocken.
    Die drei Tränen ruhten immer noch regungslos in der runzligen Handfläche.
    »Guckk … guckk …«, sagte die tiefe Stimme, so dicht bei ihr, dass die Silben sie mit einem Atemhauch streiften, und so leise, dass die Worte nicht viel mehr waren als nur dieser Hauch.
    Wieder musste sie nicken.
    Die krummen Finger schlossen sich langsam über den Tränentropfen. Als das sanfte Schimmern ganz verschwunden war, polterte etwas draußen, zweimal, und Mina zuckte zusammen.
    Die Wagenräder …
    Das beißende Dunkel im Raum schien sich ein wenig zu lichten. Mehr geschah nicht.
     
    Auf dem Fliesenboden vor ihr wurde die kleine, verkohlte Hand Stück für Stück zurückgezogen. Erst als sie schon beinahe außer Sicht war, stieß etwas Minas erstarrte Gedanken an.
    Hastig zog sie ihr Bündel auf. Die Hand auf den Fliesen verharrte. Da war die Spieluhr, und die geheime Schublade öffnete sich knirschend, wie beim letzten Mal, auch ohne Haarnadel. Mina holte das Medaillon heraus und hielt es an seiner feinen Kette in die Luft neben

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