Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
sich, ohne hinzusehen.
Es dauerte zwei, drei Augenblicke; dann spürte sie einen
sachten Zug an der Kette. Die tiefe Stimme schwieg, und auch in ihrem Kopf hörte Mina nicht einmal ein Wispern. Aber es war ein aufmerksames Schweigen.
Nach einer Weile schwang das Medaillon zurück, pendelte an ihrer ausgestreckten Hand hin und her. Noch immer hörte sie nichts, keine Antwort, nicht das leiseste Geräusch. Unsicher hielt sie die Kette weiter fest.
Dann streifte sie ein zartes Rascheln, und etwas Helles bewegte sich vor ihrer Brust. Als sie hinsah, war ihr eine lange, geschwungene Feder in den Schoß geweht; so hell, dass sie beinahe farblos wirkte.
Eine Schwanenfeder.
Bevor Mina überrascht aufblicken konnte, hörte sie das seidige Geräusch ein zweites Mal, und etwas sehr Glattes, Kühles strich über ihre Augenlider, die sich unwillkürlich schlossen. Es bewegte sich hin und her, hin und her, wie das Medaillon, das immer noch an seiner Kette schwang. Und langsam, unscharf zuerst, dann immer klarer und deutlicher, entstand etwas unter der streichelnden Berührung.
Es war nicht wirklich ein Bild und nicht wirklich ein Ton. Es war Gefühl und gleichzeitig Erinnerung, aber fremd und unvertraut. Da war der Fluss, oder das Gefühl des Flusses; sein Plätschern, sein leichter Geruch nach nassen Steinen. Draußen, vor dem Haus, aus dessen leeren Fenstern sie hinaus zu sehen oder zu fühlen schien, obwohl ihre Augen geschlossen waren. Aber unter dem Funkeln des Wassers lagen keine Kiesel, kein Schlamm. Es waren Steine, ja, so viel spürte sie; Steine, eng aneinandergefügt, statt spielerisch verstreut, glatt und eben, und das war das Eigenartigste: Sie schienen nicht feucht zu sein. Im Gegenteil, es
war etwas an ihnen, das an Staub erinnerte. Staub, wie er sich im Hochsommer auf Landstraßen sammelt.
Mina schauderte, als dunkel über den Steinen Wagenräder vor ihr auftauchten, aber es waren vier, nicht zwei. Sie schienen sich im Wasser zu drehen, ohne dass ein einziger Tropfen von ihren mächtigen Speichen fiel. Hartes, gebogenes Holz und Eisen, rollend, knirschend wie auf einer staubigen Straße, und unter dem Knirschen, fast nicht zu hören … Kinderstimmen.
Einen kurzen Moment hörte sie sie deutlich, bevor die rollenden Wagenräder sie mit sich fortnahmen. Aber selbst wenn sie nicht mehr als ein Flüstern gewesen wären - sie hätte sie erkannt. Ja, sie erkannte sie.
Aber dieses Mal lachten sie nicht.
Es krachte, das Medaillon schlug hart auf den Boden. Die zweite Schwanenfeder segelte von Minas Gesicht herab in ihren Schoß. Sie spürte, wie die unsichtbare Gegenwart hinter ihr den Raum verließ.
Mit trockenen Augen saß Mina da, streichelte die beiden Federn. Ihre knisternde Weichheit war so tröstlich wie eine freundliche Berührung. Zeit strich vorbei und verstreute im Vorübergehen eine neue, haarfeine Schicht von Staub in den Räumen.
Als es ihr endlich gelang, die Finger zu lösen, ihre Habseligkeiten wieder im Bündel zu verstauen und aufzustehen, fühlten ihre Bewegungen sich so mühselig und schwer an wie bei einer alten Frau. Über dem kleinen toten Vogel bückte sie sich und legte beide Federn wieder dorthin zurück, wo sie fehlten - an die äußersten Spitzen der Flügel, zum Schwungholen, zum Abstoßen von schwarzer
Erde und beißendem Staub, ins klare, stille Mondlicht hinauf …
Im Flur lag der große Schrank reglos auf dem Rücken. Sie stieg behutsam an ihm vorbei, fand den Vordereingang nur ein paar Schritte weiter; das Wagenrad, das ihn versperrt hatte, war umgestürzt und lag schon halb draußen auf den brüchigen Treppenstufen. Mit dem Fuß gab sie ihm einen kräftigen Stoß, obwohl sie wusste, dass es eigentlich überflüssig war; das widerstrebende Rumpeln, mit dem es die Stufen hinunterrutschte, verschaffte ihr eine grimmige Befriedigung.
Auf dem Weg zurück durch den Flur sah sie keine einzige Bewegung außer den schwingenden Fetzen ihres Rocks. An der Hintertür trat sie gegen das zweite Wagenrad, so heftig, dass eine morsche Speiche zerbrach und es über die Kante der Veranda kippte, hinunter in den verdorrten Garten.
Das Poltern, mit dem das Rad aufschlug, ging unter in wildem, zweistimmigem Geschrei, und bevor Mina ganz unter dem dunklen Türsturz hindurchgetreten war, umfingen sie schon Arme, weiche Haut schmiegte sich an ihre, Haare wischten über ihr Gesicht.
»Sie ist zurück, sie ist zurück!«, schrie Pipa in Minas Ohr, und Rosa stammelte:
»Mina … ach, Mina
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