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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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… Er wollte uns nicht hineinlassen, um dir zu helfen.«
    Sie ließ sich halten, ließ sich in den Garten führen, so vorsichtig, als wäre sie schwer krank; ihr Körper trank die Wärme, die von den Tatermädchen ausging, und das weiße, reine Licht, das der Mond über ihnen ausgoss. Alles in ihr sehnte sich danach, sich fallenzulassen, umfangen zu werden, behütet, beschützt. Aber selbst Liljas starke Hände hätten diese Starrheit nicht aus ihrem Gesicht streicheln können, und auch Nads Umarmung hätte nicht für sie tragen können, was sie zu tragen hatte.
    Außerdem spürte sie unter all der Erschöpfung, unter dem Schmerz, der jetzt heftig in ihrer Wange pochte, deutlich ein Gefühl von Dringlichkeit. Sie hätte nicht genau sagen können, woher es kam. Erst als sie das Medaillon noch einmal aus dem Bündel zog und Rosa und Pipa verstummten, wurde es ihr bewusst. Das, was sie schon einmal glaubte wahrgenommen zu haben, war unter dem hellen Mondlicht klar und eindeutig: die beiden kleinen Photographien waren dabei zu verblassen. So sehr schon, dass Mina das nachdenkliche Lächeln kaum noch ausmachen konnte und die zwei Augenpaare dunkel wie Kohlenstücke aus den weißen Gesichtern hervorstachen.
    Rosa und Pipa sahen es auch.
    »Es ist«, sagte Rosa, als Mina das Medaillon wieder zuklappte, »wie eine Krankheit. So, wie es auch mit Karol ist. Die Tage vergehen, und er wird schwächer und schwächer. Mit ihnen scheint es auch so zu sein. Wir haben nicht mehr viel Zeit, Mina.«
    Wie wohl es tat, dieses Wir, und wie viel wohler noch, dass auch Pipa dazu nickte.

    Mina sah an sich herunter. Das Kleid hing in Fetzen, nur die Flicken hielten es noch zusammen. Sie bückte sich und riss eine lange Rüsche ab. Darunter sah es noch schlimmer aus. Die gräsernen Schnürsenkel hatten gehalten, aber das Leder der Stiefel war eingerissen und zerschrammt, und der linke Absatz hing nur noch an einem einzigen schmalen Nagel.
    Mina blickte wieder zu den Tatermädchen auf.
    »Was ist«, fragte Pipa, »du willst doch nicht etwa …«
    Es war nicht klug. Es war nicht vernünftig. Aber es war, was sie wollte.
    Auf einem Bein balancierend, zerrte Mina sich die Stiefel von den Füßen und die schmutzigen, zerrissenen Strümpfe gleich dazu. Ihre Zehen wühlten sich in die Erde, zum ersten Mal fühlte sie, wie weich sie war unter der harten, verdorrten Kruste. Sie rollte die Strümpfe zusammen und steckte sie ordentlich in die Stiefelschäfte. Dann stellte sie beide Stiefel nebeneinander auf, dicht bei der Veranda. Vielleicht würde eine Maus sie finden und ein Nest darin bauen. Vielleicht würde ein Igel Unterschlupf suchen, viel besser als in einem Laubhaufen. Vielleicht würde auch, in einer stillen Nacht, ein vager Schemen aus dem Haus kommen, nicht größer als ein Kind.
    »Er ist noch da«, sagte Rosa und blickte wie Mina zur verfallenen Veranda. Hinter den Fensterhöhlen regte sich nichts. »Er ist da, und er sieht uns zu.«
    »Fürchtet er sich herauszukommen, nach so langer Zeit?«, fragte Pipa.
    Mina schüttelte den Kopf. Nein, so fühlte es sich nicht an.
    »Ich glaube eher«, sagte Rosa und lachte, so leise wie ein
kleiner Vogel, »er wartet darauf, dass wir endlich gehen, damit er anfangen kann, den Garten aufzuräumen.«
    »Vielleicht«, sagte Pipa. »Aber, gehen … Wissen wir denn, wohin, Mina?«
    Mina antwortete nicht. Sie sah zum Fluss, milchweiß und wirklich. So wirklich, wie ein Fluss nur sein konnte. Sie hörte das Wasser rinnen, sie roch seinen Geruch. Es war nicht möglich, dass er verschwinden könnte, nur weil ein kleines Mädchen daran dachte, dass sie Straßensteine in ihm gesehen hatte durch die Augen eines Pugs. Und doch …
    Sie musste es versuchen. Es gab keinen anderen Weg.
    Mina kniff die Augen zu, so fest, dass ihre Lider schmerzten.
    »Was machst du?«, fragte Pipa; sie klang unruhig.
    »Lass«, sagte Rosa, »lass, du störst sie nur.«
    »Aber ich will gar nicht …«
    Nein, dachte Mina und kniff die Augen noch fester zusammen, nein, ich will es auch nicht. Aber ich muss die Straße finden, Pipa. Und im Wald gibt es solche Straßen nicht. Solche Straßen, auf denen Fuhrwerke rollen; die zu wohlhabenden Dörfern führen oder sogar in eine Stadt. Wo die Luft immer staubig schmeckt, selbst wenn es regnet, wo die Steine sich unter den Sohlen reiben. Wo es keinen Schutz im Schatten gibt. Solche Straßen …
    Sie hörte Pipas kleinen Aufschrei, Rosas hastiges Einatmen. Erst dann öffnete sie vorsichtig die

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