Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
es durch Stoff und Holz hindurch zu spüren, wich die Einsamkeit um eine Winzigkeit von ihr zurück, und sie beschleunigte ihre Schritte. Es gab ein Ziel, auch wenn sie nicht wusste, wie es aussah. Ein Ziel, das sie erreichen musste, und wenn sie es erreichte … Sie hatte keine Vorstellung davon, was dann geschehen würde. Nur ein warmes, vages Gefühl, das zu sagen schien, alles würde am Ende des Weges irgendwie in Ordnung kommen. War es nicht auch in den Geschichten so?
Seltsamerweise sah sie sich im glücklichen Ausgang bei den Tatern sitzen, lachend und scherzend, oh, wie laut lachend und wie fröhlich scherzend! - und nicht zu Hause
auf dem Gut. Das breite Haus schien ihr so weit entfernt wie in einem anderen Land. Sie fühlte sich schuldbewusst, als sie es merkte, versuchte, an die Eltern zu denken, sich daran zu erinnern, wie sie sich sorgen mussten. Wie sie bangten und hofften. Hofften, genau wie sie selbst, dass alles doch noch, irgendwie, ein gutes Ende finden würde. Aber die freundlichen braunen Tatergesichter schoben sich immer wieder dazwischen, die bunten Kleider, das Lachen, das Streicheln. Und anstatt an zu Hause zu denken, fragte sie sich, wo sie waren, Lilja, Nad und die anderen, was sie taten und ob sie sich vielleicht auch Sorgen um die drei Mädchen machten. Erst als ihre Gedanken Viorel streiften und der nachtschwarze Streit zwischen ihm und Rosa wieder in ihr auftauchte, zwang sie sich, alle Gedanken beiseitezuschieben und nur noch auf die Straße zu sehen.
Vor ihren Füßen wurden die Steine langsam heller, je weiter der versteckte Morgen seine Finger ausstreckte; aber sie blieben staubig und grau, und auch in die Felder rechts und links von ihr stahl sich kaum Farbe. Als die Mädchen ein paar Augenblicke in einem der Knicks rasteten, unter verwobenen Zweigen von Sträuchern und kleinen Bäumen, sah Rosa zum Himmel und sagte nachdenklich:
»Es muss schon viel später sein, als es aussieht. Ich höre die Vögel, es ist längst Morgen. Aber die Wolken sind so dicht. Wir werden heute nicht viel von der Sonne sehen. Vielleicht gibt es wieder Regen.«
Mina streckte die Beine aus und folgte Rosas Blick. Über ihnen drängten die grauen Wolkenschafe sich aneinander, Bauch an Bauch. Und obwohl der Himmel von ihnen voll war bis zum Horizont, wirkte er leer und öde wie die Felder um sie herum. Kein Dorf war in Sicht, kein Gehöft, nicht
einmal eine einzelne Scheune. Graugrün und matt das Meer der Halme, nur dort drüben, hinter einem anderen Knick, ein fahler roter Fleck, wie von einer großen Mohnblüte oder wie von Pipas Haarschleifen.
Mina fuhr sich mit den Fingern durch die eigenen, wirren Strähnen. Ein schwacher Wind bewegte die Zweige in den Knicks. Für einen Augenblick wirkte der rote Fleck sehr viel größer.
Sie kniff die Augen zusammen und sah genauer hin.
»Was ist?«, fragte Pipa und hockte sich neben sie. »Kannst du was erkennen?«
Mina war schon fast dabei, den Kopf zu schütteln. Aber ein zweiter Windhauch schob den Vorhang der Blätter fort, und sie sah mit einem Mal, dass der rote Fleck kein Fleck war, sondern eine längliche, gerade Form hatte, viel zu groß für eine Blüte - und viel zu hoch oben.
Minas Herz tat ein paar kräftige Schläge. Es war ein Hausdach.
Sie zog Pipa am Ärmel, sah zu Rosa auf, deutete.
Ein rotes Hausdach, von einem sehr großen Haus. Und es schien abseits der Straße zu liegen.
»Ich sehe es«, sagte Rosa mit zusammengezogenen Brauen, »aber ich verstehe nicht … Es muss einen Weg geben, der dorthin führt, und wir müssen dran vorbeigekommen sein.«
»Aber es liegt nicht an der Straße«, sagte Pipa; Mina hörte deutlich, wie wenig Lust sie hatte, ein Stück des Weges zurückzugehen. »Müssen wir ihr nicht weiter folgen, bis sie uns irgendwohin führt? Was hat der Pug denn gesagt, Mina?«
»Schsch«, machte Rosa, »sei nicht dumm, Pipa«, und
Mina hob hilflos die Schultern. Pipa sah sie kurz an; dann streichelte sie über Minas Arm, ohne etwas zu antworten.
Es gab nicht viel anderes zu tun, als zurückzugehen. Das Haus mit dem roten Dach war das einzige Gebäude, das sie sehen konnten. Wo auch immer die gepflasterte Straße hinführte, es schien nicht in der Nähe zu sein.
Sie gingen sehr langsam, die Augen auf den Wegrand gerichtet. Bogen Halme beiseite, Zweige von Sträuchern, die in den Knicks wuchsen. Es schien endlos zu dauern, und beinahe verstand Mina das leise Murren schon, das von Pipa kam. Aber vor ihr tauchte Rosa
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