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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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Nelke. Bescheiden und zart waren die Blumen gewesen, zierlich, zerbrechlich. Mädchenhaft.
    Was Mina jetzt faltete, war anders.
    Mit ungeübten, ungeschickten Fingern kniffte und strich sie die größte, röteste, leuchtendste Rose, ohne Stängel, ohne Blätter, nur die Blüte, weit, weit offen, zur Sonne, zum Licht. Sie brauchte mehrere Blätter dafür, und als sie fertig war, schob sie sie in die Mitte des Tisches, über die Ringelblumen. Dort lag sie, prangte, strahlte. So herzblutrot in all dem Gelb.
    Mina atmete tief aus. Um sie her herrschte Stille. Keine Hand rührte sich mehr; kein gelbes Papier raschelte. Als sie aufblickte, sah sie die Frau mit dem Vogelnesthaar vor dem Servierwagen stehen; eine leere Tasse baumelte mit dem Henkel an ihrem kleinen Finger wie ein seltsamer Schmuck.

    Ein alter Mann am Tisch streckte zitternde Finger aus.
    »Ach«, sagte er mit brüchiger Stimme und berührte die Rose, »ach …«
    Nur das, nicht mehr. Es war der traurigste Laut, den Mina je gehört hatte. Sie kämpfte gegen die Tränen, die nicht fließen konnten. Und sie fühlte, wie ihre Hand sich um die Kette des Medaillons zu einer Faust verkrampfte.
    Andere tasteten jetzt nach dem roten Papier, strichen, streichelten. Ein Murmeln setzte ein, das nicht aus Worten bestand. Ein eigentümliches, fremdes Geräusch, aber so viele hundertmal besser als die Stille unter dem Rascheln von gelbem Papier.
    »Mein Fräulein«, sagte die Vogelnestfrau; sie bemerkte die Tasse nicht einmal, die hin und her schaukelte, als sie zu Mina trat. »Ach, mein Fräulein. Sind Sie deshalb zu uns gekommen? Um uns armen Seelen eine Freude zu machen? Wie schön Ihre Blume ist. Wer sind Sie nur?«
    Mina sah in die Gesichter ringsum. Grau immer noch, und die Augen so matt. Falten und schiefe Züge, die sich nicht glätten würden, auch nicht, wenn man sie in ein Feld voll roter Rosen führte, das von einem Horizont zum anderen reichte.
    Aber jetzt, jetzt sahen alle sie an.
    Langsam streckte sie den Arm mit dem Medaillon aus, hielt es über den Tisch, wo es pendelte und sich drehte, über dem Herzen der roten Blüte.
    »Oh«, sagte der alte Mann, »oh, nein, nein! Dorthin wollen Sie nicht gehen. Dort unten sterben die jungen Menschen wie die Fliegen! Er reißt ihnen die Flügel aus, ja, das tut er …«
    Das Blut dröhnte Mina in den Ohren. Sie kannten sie.
Sie erkannten die Photographien. Oh, gütiger Himmel. Sie kannten sie.
    »Was für ein Unsinn«, sagte die Vogelnestfrau hastig, »hören Sie nicht auf ihn, Fräulein. Der arme Kerl, er weiß ja nicht, was er redet. Kommen Sie, wir trinken Tee miteinander. Wollten wir das denn nicht, Tee trinken?«
    Wie bittend ihre Stimme klang. Aber das hämmernde Blut ließ Mina keine Wahl. Sie beachtete die Frau nicht, musterte stattdessen die grauen Gesichter am Tisch, forschte, fragte. Eine Frau, hinter wirren blonden Haaren verborgen, die ihr bis zur Hüfte reichen mussten, kicherte plötzlich schrill.
    »Sie sind nicht da unten«, sagte sie. Ihre Stimme war jung und hart. »Nein, schon lange nicht mehr. Sie sind draußen, bei ihren Freunden. Bei ihren weißen Freunden sind sie. Die haben’s gut.«
    Draußen?
     
    Im Garten schimmerte das gläserne Schwanenhaus noch immer wie ein riesiger Diamant vor den schweigenden Bänken, obwohl das Licht noch schwächer geworden war. Verwirrt ging Mina auf das seltsame Gebilde zu. Sah durch die Scheiben, auf die ruhigen, schönen Formen. Bei ihren weißen Freunden …?
    Es waren keine Menschen im Schwanenhaus gewesen, sie wusste es sicher. Trotzdem versuchte Mina jetzt, das Gewirr der Pflanzen und Federn mit den Augen zu durchdringen. Aber alles, was sie sehen konnte, waren Schwäne.
    Das kleine graue Tier hockte noch immer zwischen den beiden großen. Minas Blick hing wieder an ihm fest, wie beim ersten Mal. So, wie die Tiere saßen, sah es beinahe so
aus, als ob die erwachsenen Schwäne je einen Flügel über dem Jungen ausgebreitet hätten. Je einen großen, weißen Flügel, mit nur einem winzigen Fleckchen Schwarz in der Mitte.
    Einem Fleckchen Schwarz, das seltsam geschwungen war.
    Wie ein Blatt. Oder der Strich einer breiten Schreibfeder. Eines auf jedem der zwei Flügel. Einmal rechts. Einmal links.
    Fassungslos starrte Mina darauf.
     
    Vielleicht atmete sie laut aus; vielleicht bewegte sie sich. Ein Schwan hob den Kopf, ganz in ihrer Nähe. Ein zweiter folgte, dann ein dritter. Allmählich entstand unter der Lautlosigkeit des Gartens ein Geräusch; ein

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