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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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sehr damenhaft. »Alle anderen sind natürlich vorn im Haus. Diejenigen, die Besuch bekommen, meine ich. Dort herrscht jetzt Trubel … Aber wir hier hinten haben es auch ganz reizend, finden Sie nicht? Haben Sie schon den Herrn Doktor begrüßt?«
    Mina zuckte zusammen, aber die Frau lachte wieder.
    »Nein, wie dumm von mir. Der Herr Doktor arbeitet um diese Zeit an seinen … Forschungen.«
    Unter dem Nachhall ihres Lachens schauderte sie kurz, aber deutlich, und der Schauder übertrug sich auf Mina. Forschungen …
    Der Blick der Frau flog zu der Flügeltür, die sich in einen Flur öffnete. Etwas entfernt, in einem Winkel, konnte Mina einen hübschen Steinbogen sehen. In seinem schwachen Schatten schienen Stufen nach unten zu führen. Die Augen
der Frau sprangen von ihnen fast sofort wieder zu Minas Gesicht zurück.
    Er war hier.
    Die Frau sagte irgendetwas, suchte sich den Weg in ihr Geplauder zurück. Mina nickte, ohne hinzuhören, starrte auf den Bogen im Flur.
    Hier, jetzt, in diesem Moment.
    Aber er wusste nicht, dass sie hier war.
    Sie fasste die Frau am Ärmel ihres Nachthemds, so höflich und so zart, wie es nur ging. Als das Geplauder verblüfft abbrach, zog sie das Medaillon aus ihrem Halsausschnitt, öffnete es vorsichtig und hielt es an seiner Kette hoch.
    »Was ist denn, meine Liebe? - Ach, wie dumm von mir, ich habe ja gar nicht mehr an Ihr Getränk gedacht! Kaffee, nicht wahr? Und ein Stück Kuchen dazu? Warten Sie hier, nur einen Augenblick. Ich komme gleich zurück.«
    Fort war sie, auf einen Servierwagen zu, auf dem nichts stand außer klaren Wasserkaraffen und nichts lag außer Brotscheiben, dünn mit Butter bestrichen, die sich in der Wärme des Raums schon leicht verbogen. Sie hatte das Medaillon nicht einmal angesehen.
    Mina starrte ihr hinterher.
    Neben ihr raschelte Papier unter rastlosen Händen.
    Sie wusste nicht, was sie tun sollte, also trat sie zu dem Tisch, der ihr am nächsten war, beugte sich über den besonders großen Haufen gefalteter Blumen, der dort lag. Die vier, fünf Menschen in ihren Nachthemden, die darum saßen, blickten nicht auf. Auch nicht, als Mina das Medaillon wie unabsichtlich hin und her pendeln ließ.
    Die Frau mit den Vogelnesthaaren stand immer noch bei
den Brotscheiben, hatte den Kopf schief gelegt wie eben und eine Hand nachdenklich unters Kinn gelegt.
    Mina war ratlos.
    Sie schob ein paar der Papierblumen auf dem Tisch durcheinander; nur ein wenig zuerst, dann etwas mehr. Aber auch, als sie den Haufen beinahe ganz zu Fall brachte und mehrere Blumen auf den Fußboden fielen, regte sich niemand. Am Tisch nicht, und auch nicht im Raum. Nur die vielen Hände arbeiteten weiter, emsig, ohne Unterbrechung.
    Bitte, dachte Mina, wenn doch nur jemand aufschauen würde. Jemand, der vielleicht nicht nur über Tee und Kuchen spricht, die es nicht gibt. Ich bin hier, aber er ist auch hier, und ich weiß nicht, wann er wieder nach oben kommt von seinen sonderbaren Forschungen, und wenn hier niemand ist, der mit mir spricht, der mir sagen kann … Bitte?
    Sie falteten die Blumen, und als Mina hilflos auf die arbeitenden Hände hinuntersah, fiel ihr etwas auf.
    Es war nicht nur immer dieselbe Farbe, die sie falteten. Es war dieselbe Blume. Nicht nur an diesem Tisch. Sie kannte sie von zu Hause, aus dem Küchengarten.
    Ringelblumen. Hunderte davon.
    Wieder riss es in ihrer Brust, schlimmer noch als draußen vor dem gläsernen Schwanenkäfig. Sie brauchte den Selam nicht, um zu fühlen, was diese Blumen in diesem Raum bedeuteten. Ringelblumen, von fühllosen Händen gefaltet, unter Augen, die nicht mehr sahen als nur immer dies: Falten, Glattstreichen, Falten, Kniffen … Ringelblumen, die leere Tage nicht ausfüllten, sondern nur vergehen ließen. Ringelblumen aus Papier statt echter Blumensträuße, von Verwandten, Freunden.

    Ringelblumen.
    Verzweiflung.
    Verzweiflung füllte den Raum mit ihrem trockenen, leblosen Rascheln. So dicht, so schwer wie Rauch über brennenden Feldern. Sie brachte Mina beinahe zum Ersticken.
    Wie von selbst bewegten sich ihre eigenen Finger, zogen ein Blatt aus einem der Stapel. Ein tiefes, dunkles, sattes Rot glomm auf. Das Rascheln um sie her wurde plötzlich schwächer.
    Sie wusste nicht genau, was sie tat, hatte nie die Geduld gehabt, diese Kunst ordentlich zu lernen. Aber ein paar Nachmittage lang wenigstens hatte sie sich unter Mademoiselles strengem Blick gequält, hatte der Mutter einen Veilchenstrauß gefaltet und der Patentante eine

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