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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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wären und du fändest sie trotzdem hier … Wäre das nicht beinahe unvorstellbar grauenhaft? So junge Leben, zerrissen durch einen furchtbaren Irrtum … Einen Irrtum, der nicht wiedergutzumachen ist. Einen Irrtum, den liebende Eltern begingen, nur weil sie ihre kleine Tochter schützen wollten.«
    Er stand jetzt sehr nahe bei ihr. Es funkelte über ihrem Kopf, und sie konnte nicht anders: Je tiefer die spiegelnden Brillengläser sich über sie neigten, desto mehr wandte sie ihnen den Blick zu, in das schreckliche Gleißen hinein.
    »Wünschst du dir das?«, flüsterte der Doktor weich. »Wünschst du dir das wirklich, Wilhelmina?«
    Der Wald in ihr zerfiel zu schwarzer Asche.
    Seine Stimme wurde noch weicher, seidiger.
    »Ach, du armes, törichtes Kind … Du warst wirklich noch zu klein, um dich zu erinnern, nicht wahr? An die seltsamen, ungesunden Spiele, die sie mit ihrer kleinen Schwester spielten. Die krankhaften Geschichten, die sie ihr erzählten. Du glaubst jetzt, du liebtest sie, und bestimmt tatest du das damals auch, jung und unschuldig, wie du warst, unwissend um die Gefahren, in die sie dich brachten, wieder und immer wieder … Diese furchtbare Szene mit der Schlange … Ich denke fast, in diesem Moment erkanntest du zum ersten Mal die Bedrohung, so klein du auch warst.«

    Er schwieg, beobachtete ihr Gesicht.
    Schlange? Schlange ? Es regte sich wieder in ihr, jener Fetzen von Erinnerung, der sie schon einmal gestreift hatte, auf der Schlangenwiese, in einer anderen Welt. Ich weiß doch, wie sich ihre Haut anfühlt … Sie starrte den Doktor an, und Bildersplitter schienen sich in seinen Brillengläsern zu spiegeln. Der Garten zu Hause … Jungenhände, zerschrammte Jungenknie, neben ihr, wieder auf jener weichen Decke, aber da war noch etwas, etwas anderes … Ein schlanker, glänzender Leib ganz dicht vor ihr, der sich bewegte, wand und um sich selbst schlang. Und eine warme Hand, die ihre nahm und mit ihr diesen Leib berührte; und auch er war warm; warm und trocken und glatt …
    Ein kleiner Aufschrei hallte tief unten in ihrer Erinnerung nach - nur ganz kurz, überrascht, verwundert, nicht ängstlich; nein, ängstlich war sie nicht gewesen. Warum denn auch? Sie waren doch bei ihr, alle beide. Aber er war gehört worden, ihr Schrei. Schritte eilten durch das Gras, kamen näher und näher, der glänzende Leib zuckte unter ihren Fingern. Mina keuchte auf, als sie im Kopf die Stimme ihres Vaters hörte, so laut und rau und zitternd vor Entsetzen: »Weg, weg mit der Schlange!« Ein schwarz beschuhter Fuß, der dicht an ihrem Gesicht vorbeitrat; ein schreckliches Knirschen, und der glänzende Leib bewegte sich nicht mehr. Neben ihr fing eine Kinderstimme zu weinen an. Man hörte sie kaum, so laut schrie der Vater.
    »Ich habe genug von euch, hört ihr, genug! Wollt ihr eure Schwester umbringen, ist es das? Ist es das?! Mina, mein Schätzchen«, ein flüchtiges, zitterndes Streicheln, »meine Kleine, wie gut, dass du geschrien hast. Das muss aufhören, aufhören, noch heute!«

    Sie taumelte zurück, fort vom Doktor, von seinem wissenden Blick, gebückt, zusammengekrümmt, mit einem solchen Schmerz in der Brust, als habe er sie mit Fäusten geschlagen. Und um den Schmerz herum war nur noch Leere.
    Nur ein kleiner Schrei …
    Die Hunde knurrten, als sie sich so schnell bewegte. Wieder gefror sie, die Hände gegen den Bauch gepresst.
    »Du musst dich nicht vor ihnen fürchten«, sagte er lächelnd, so sanft, so verständnisvoll. »Sie sind da, um die Menschen hier vor sich selbst zu beschützen. Und sie hören auf mich. Auf jedes Wort. Sie kennen ihren Herrn.«
    Sie hörte ihm kaum zu. Alles, was er sagte, alles, was sie tun oder nicht tun konnte, ob sie sich retten konnte vor ihm oder ob sie einfach hier stehen blieb, bis der Abend kam … es war so vollkommen ohne jede Bedeutung. Alles war bedeutungslos - jetzt, wo sie verstand, wirklich verstand. Was sie getan hatten, ihre Brüder. Was sie getan hatte, ohne es zu wollen. Was es wirklich meinte, jenes tränenerstickte » für Mina «, das sie verfolgt hatte, den ganzen langen Weg.
    Sie konnte nicht mehr kämpfen.
    Aber die Worte des Doktors drangen doch zu ihr durch, irgendwie, klirrten und hallten in ihr, in der furchtbaren Leere. Ihren Herrn , hatte er gesagt. Ihren Herrn kennen die Hunde … Ganz von selbst dachte es in ihr weiter, während er redete, irgendetwas; ein Mechanismus in ihrem Kopf, sinnlos, eigensinnig, wie die Feder, die die Spieluhr

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