Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
schoss es ihr durch den Kopf. Der Haupteingang, mit den vielen Menschen! Dort gab es ein Tor, das weit, weit offen stand! Wenn es ihr nur gelang, durch die weißen Kittel zu rennen, so schnell, dass keiner sie aufhalten konnte.
Nein, dachte es in ihr, so entschlossen und so plötzlich, dass es sie selbst überraschte. Nein. Ich werde nicht weglaufen. Nicht dieses Mal. Nicht wieder. Der Wald ist da, mit all seinen Wundern, ich habe ihn gesehen! Ich habe mit der verfluchten Tänzerin getanzt, ich habe den Pug befreit. Diese Dinge sind wahr - so wahr, wie ich wahr bin.
Und wenn er es nicht sehen kann - dann zeige ich es ihm.
Sie wagte es nicht, die Augen zu schließen. Dachte an Bäume, so fest sie nur konnte, riesige Bäume mit Ästen, die sich im Sturmwind bogen. Sie konnten einen ausgewachsenen Mann zu Boden werfen. Und einen Hund.
Einer von ihnen jaulte leise, leckte sich den Rücken, als habe ihn etwas Unsichtbares gestreift. Wilde Hoffnung
durchströmte Mina. Auch der Doktor musste etwas gespürt haben. Er zog das Lächeln noch etwas weiter die bärtigen Wangen hinauf und sagte:
»Was denn, Wilhelmina? Versuchen wir kleine Zauberkunststücke? Ach, Kind, Kind. Das ist doch reine Torheit. Was auch immer du dir da einbildest, diese Dinge existieren nur in deinem Kopf. Bist du ein kleines Mädchen, was nach Elfen ruft, wenn es sich fürchtet?«
Nach Elfen nicht, dachte sie und biss die Zähne noch fester zusammen. Nein, nach Elfen nicht … Sie streckte ihre Gedanken wie Fühler aus, tastete nach Ästen und Zweigen, nach dem Felsen unter der Erde, der Luft zwischen den Blättern. Ein Windstoß sträubte das Fell der Hunde.
»Das Wetter wendet sich«, sagte der Doktor und sah zu den Wolken. »Denkst du nicht, wir sollten nach drinnen gehen?«
Oh, wie sie glänzte, diese Brille, so makellos, so unvorstellbar rein! Und wie ihre Gestalt sich in ihr brach, klein und verzerrt … Verzweifelt versuchte Mina, sich an ihren Gedanken festzuklammern. Aber die Blätter wischten ihr durch die Finger, und die Zweige zogen sich vor ihr zurück. Tonlos rief sie nach dem Wald, so laut, dass ihre Brust anfing zu brennen.
Waren es Insekten, die um die Beine des Doktors wirbelten und seine Hosenbeine zum Flattern brachten, einen Augenblick lang nur? Ließ ihn ein Stich zusammenzucken, wie er es jetzt tat?
Die Brillengläser funkelten ungerührt, als er sich die Bügelfalten glatt strich.
»Man denkt heute«, sagte er ruhig, »dass es manche Menschen gibt, die sich so sehr in ihren Wahn vertiefen
können - ihren Wahn, hörst du, Mädchen? -, dass es ihnen auf irgendeine Weise gelingt, die verzerrten Gebilde ihrer Fantasie so weit nach außen zu treiben, dass sie für andere Menschen sicht- und fühlbar werden. Es mag ein chemischer Prozess sein oder eine Form von ansteckender Einbildung. Die Wissenschaft hat es noch nicht herausgefunden. Aber es gibt keinen Zweifel«, ruckhaft trat er einen Schritt auf sie zu, und das Licht von den Brillengläsern stach ihr in die Augen, »keinen noch so geringen Zweifel, Mina, dass es Einbildungen sind, Wahnvorstellungen. Nichts weiter als das. Ungesund. Krankhaft. Oder wie die einfachen Menschen sagen: verrückt.«
Das Wort riss an ihren Gedanken. Immer wieder dieses Wort, wieder und wieder und wieder … Sie zwang sich, von der Brille wegzusehen, kämpfte um jedes schimmernde grüne Blatt in sich, jeden schmalen Trieb.
Der Doktor beobachtete sie.
»Ja, Wilhelmina. Verrückt sagt man dazu. Und es passt auch nicht schlecht, das Wort. Etwas in deinem Kopf ist, irgendwie, an einen falschen Platz gerückt. Wäre es nicht so, du hättest längst erkannt, dass du das, was du hier suchst, nicht finden kannst.«
Seine Stimme wurde leise und sehr glatt.
»Denkst du wirklich, ich hätte dich nicht längst verstanden? Besser, als du dich selbst? Du glaubst, du bist auf einer Suche. Und ich weiß sehr gut, nach wem du zu suchen meinst. Aber hast du dabei niemals bedacht … Was ist, wenn du sie findest?«
Mina schwindelte.
»Was ist, wenn du sie findest, und sie wären tatsächlich hier? Könnte das denn nicht nur eins bedeuten? Dass sie an
jenem Ort sind, der für sie … angemessen ist? Für sie und damit auch für dich?«
Sie versteifte sich gegen das, was er sagte, schützte sich mit Blütenblättern und leuchtenden Wölkchen, die Pilze in den Nachthimmel atmeten. Aber die Stimme des Doktors wand sich durch alles hindurch, seidig und glatt wie eine Schlange.
»Und - wenn sie nicht verrückt
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