Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
Vom Netzwerk:
Erde. Mina hörte den Doktor noch, wie er etwas rief, aber es war nicht mehr zu verstehen. Das Gras unter ihren Füßen zitterte, und der Boden schwankte. Eine neue Stimme fauchte mit dem Wind heran, rau und voll und vertraut, und in dem Augenblick, als das rote Pferd mit flatternder, flammender
Mähne über den Holunder geflogen kam, schrie Tausendschön:
    »Springen Sie auf, Mina! Springen Sie auf!«
    Grasbüschel, Erdfetzen wirbelten durch die Luft, Menschen schrien, Hunde jaulten, weiße Hemden flatterten wie Fahnen. Eine Mähne flammte vor den Wolken, Nüstern schnaubten heißen Dampf, und dahinter, hoch über Minas Kopf …
    Stille Augen, die den Himmel spiegelten. Brauen wie Vogelschwingen auf einer blassen Stirn.
    Und wieder verharrte die Zeit.
    »Mina, Mina, verflucht«, fauchte Tausendschön von irgendwoher. »Springen, habe ich gesagt! Du sollst springen!«
    Karols Arm packte sie, fest, wirklich, im letzten Moment krallte sie nach dem Bündel. Sie wurde auf den heißen Pferdeleib geschleudert, glitt an dem schweißnassen Fell ab, wurde gehalten. Etwas schlug gegen ihren Schädel. Es miaute schmerzerfüllt, und da war der Kater, alle vier Pfoten in der Mähne des Pferdes vergraben, und seine Augen strahlten hell wie Lampen.
    »Gut gemacht, Mina! Und jetzt halt dich fest, wie du dich noch nie in deinem Leben festgehalten hast!«
    Sie hatte keine Hand frei, versuchte verzweifelt, Spieluhr, Bündel und Mähne gleichzeitig zu fassen. Das Pferd wieherte laut auf, Karols Arm packte sie noch härter. Die Hunde heulten, der Doktor schrie:
    »Bringt sie mir! Sofort! Und dieses verteufelte Pferd!«
    Das Pferd sprang, mitten durch den Holunder. Einen Augenblick lang schwebten sie zwischen dunklen Blättern und Zweigen, dem Abend entgegen, der hinter den Wolken
die ersten Falten seines Schattenmantels ausbreitete. Das Bündel rutschte Mina aus der Hand, verfing sich im Baum, die Kordel surrte durch ihre Finger. Sie öffnete den Mund zu einem tonlosen Schrei.
    Dann schlugen die Hufe krachend in den Boden, Mina schmeckte Blut auf der Zunge, und das Geschrei der Hunde hinter dem Zaun steigerte sich zur Raserei.

Es hätte wie in einem Märchen sein sollen. Der König, der die verzweifelte Prinzessin im letzten Moment aus schrecklicher Gefahr rettete, auf einem schimmernden weißen Pferd …
    Aber sie war keine Prinzessin, und das Pferd, das kleine, wilde Pferd des Doktors, loderte brandfarben, und sein Rücken war hart und glitschig von Schweiß. Mina rutschte auf ihm hin und her, mit brennenden Beinen. Sie hatte nur eine Hand, um sich in der Mähne festzuklammern, und dort hing auch der Kater, mit wildem, triumphierendem Blick und gesträubtem Fell, und immer wieder gerieten ihre Finger unter seine Krallen. Die Hufe donnerten gegen den Boden, sie spürte jeden Stoß bis ins Innerste; Grashalme, Zweige von Büschen wurden losgerissen und aufgewirbelt und zerkratzten ihre Haut. Nein, es war nicht wie in einem Märchen.
    Und doch war es das.
    Karol hielt sie. Sie fühlte seinen Arm so deutlich wie die eigenen Haare, die ihr ums Gesicht peitschten. Hemdstoff, der sich an ihrem Kleid rieb. Muskeln, die sich zusammenzogen. Knochen, die gegen ihre Rippen drückten. Und hinter ihr seine Brust, an ihren Rücken gepresst.

    Er hielt sie sehr fest, viel fester noch, als Viorel sie gehalten hatte. Aber es war etwas vollkommen anderes, so anders, dass sie nicht einmal sicher war, ob dasselbe Wort - wenn es denn eines gab - auf beides gepasst hätte.
    Sie hörte seinen Atem nicht, und sie hätte nicht sagen können, ob seine Haut unter dem Stoff warm war oder kalt. Sie fühlte nur die Berührungen, so klar und wirklich; als hätte ein Teil von ihr sich irgendwie aus der wilden Flucht gelöst, sich in ruhige Stille begeben, um dort nichts anderes zu tun, als jeder einzelnen dieser Berührungen bis zur Neige nachzuspüren.
    Sie wagte nicht, sich umzudrehen.
    Aber während sie ihnen noch nachfühlte, zwischen Pferdeschnauben und Katzenkrallen, wurden die Berührungen schwächer. Sein Griff um ihre Mitte schien sich zu lösen, mit jedem Atemzug, den sie tat. Nach und nach schwand es einfach dahin, dieses Gefühl, dass sein Arm sie hielt.
    Nein, bettelte sie stumm, als es an ihrem Rücken immer kühler wurde und der Wind ihr auch von hinten in die Haare fuhr. Nein, bleib doch. Bleib bei mir.
    War es die aufgewirbelte Luft, die in ihrem Ohr flüsterte?
    Mina …
    Das Pferd warf den Kopf zurück, der Kater krallte sich mit den Hinterpfoten

Weitere Kostenlose Bücher