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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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schwarzen Augen tausend lustige Fältchen bildeten, und ihr eine Geschichte erzählen, eine harmlose, kleine, vielleicht ein wenig traurige Geschichte. Es würde nichts Unheimliches daran sein, nichts Dunkles, Unerklärliches. Und dann würde sie zurückgehen. Frieda würde schon nach ihr suchen, aber sie konnte sich leicht eine Ausrede einfallen lassen. Es wäre ja nicht das erste Mal. Sie konnte das Kleid in ihrem Zimmer ausbürsten, ohne dass es jemand merkte, sich schnell alleine umkleiden. Zum Abendessen würde sie wieder im Speisezimmer sitzen, würde lächeln und mit dem Herrn Doktor Konversation machen, wie es sich gehörte; dem freundlichen, klugen Herrn Doktor, der ihr niemals etwas Böses gewollt hatte. Sie würde nicht an die seltsame Falte denken auf seiner Stirn, oder daran, wie kalt seine Stimme geklungen hatte, als er von Institutionen sprach, vom Fortbringen; von Mina, als würde er sie nicht schon seit ihrer Kindheit kennen, als wäre sie eine Fremde,
eine Patientin … Nein, sie würde nicht mehr daran denken. Und auch an alles andere nicht. Nicht an schwarze Erinnerungen, die aus dem Nichts kamen. Nicht an Stimmen, die im Nirgendwo flüsterten. Und morgen … morgen würde sie die Spieluhr auf den Dachboden zurückbringen, die Bodenluke schließen und niemals, niemals wieder hinaufgehen.
    Sie nahm die Hand aus der Tasche, deren Finger die ganze Zeit mit dem gläsernen Frauenschuh gespielt hatten, ohne dass es ihr aufgefallen war. Der Wind blies ihr die losen Haarsträhnen über das Gesicht, die aus den Schleifen gerutscht waren. Noch drei Kurven, sagte sie sich fest. Nein, Mina, sei vernünftig. Drei Kurven, und dann ist Schluss. Wenn sie ihn dann noch nicht sah, würde sie zurückgehen.
     
    Sie hatte keine Erfahrung darin, die Tageszeiten vom Himmel abzulesen. Das rotgoldene Licht des späten Nachmittags wurde röter, ohne dass sie darauf achtete; wurde dunkelrot, beinahe violett, und immer noch hatte sie den Drehorgelmann nicht gefunden. Es wäre Unsinn gewesen, nach den ersten drei Kurven umzukehren. Die Straße wand sich so unregelmäßig, um jeden größeren Busch machte sie eine Schleife, jedem Stein wich sie in einem Bogen aus. Man konnte kaum hundert Meter weit auf ihr entlangsehen. Und wahrscheinlich war sein Vorsprung doch viel größer, als Mina am Anfang gedacht hatte. Sie konnte auch nicht schnell gehen in den engen Stiefeln, sicher nicht so schnell wie ein Mann, der obendrein noch daran gewöhnt war, jeden Tag viele Stunden zu laufen. Also noch drei Kurven mehr und noch jene lange Steigung, und dann noch die weite Schleife um diese Weide herum …

    Kühe nickten ihr freundlich zu, während sie vorüberging, oder wenigstens kam es ihr so vor. Lange Grashalme hingen ihnen aus dem Maul, und sie musste über die bedächtigen Kaubewegungen lachen. Von rechts nach links nach rechts … Sie sahen nicht so aus, als ob ihnen jemals die Zeit ausgehen würde. Vögel zirpten in den Büschen am Straßenrand und warfen ihre kleinen Körper in gewagten Schwüngen durch die Luft, schwarze Bögen vor dem dunklen Blau. Immer wieder raschelten Tiere verborgen im hohen Gras, zwischen den Halmen der Felder. Bald erschreckte sie sich nicht mehr davor. Es waren nur Kaninchen, oder Amseln, die nach Würmern scharrten. Sang nicht auch eine, gerade jetzt, irgendwo hinter dem kleinen Wäldchen dort drüben?
    Die leisen Töne klangen süß, aber etwas daran berührte sie unbehaglich. Es fiel ihr nicht gleich ein. Erst als sie ein paar Biegungen weiter eine zweite Amsel schlagen hörte und dann eine dritte, wurde es ihr klar. Zu Hause gab es nur eine, einen kleinen schwarzen Umriss, der sich auf dem Dachfirst niederließ, wenn das Licht allmählich schwächer wurde; wenn die Mädchen die Wäsche von den Leinen hinter dem Haus holten und die Vordertür abgeschlossen wurde. Die Amsel … die Amsel bedeutete Abend.
    Mina blieb stehen. Die Schatten der Büsche, die auf die Straße fielen, waren inzwischen länger als die Büsche selbst. Über einer Senke im Feld war die Luft dichter geworden - der erste Hauch von feinem weißen Dunst. Der Rand der roten Sonne schräg vor ihr berührte die Baumwipfel.
    Einen Moment war sie ratlos. War das tatsächlich schon die Abenddämmerung? Es war alles so weit und fremd, dass sie nicht sicher war. Wie viel Zeit hatte sie noch, bis
es wirklich dunkel wurde? Wie weit war sie überhaupt gegangen? Und wie lang würde sie für den Rückweg brauchen?
    Es war eine sehr ernste

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