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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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Verfehlung, zu spät zum Abendessen zu kommen. Aber als sie weiter nachdachte, musste sie sich eingestehen, dass sie nicht einmal sicher wusste, um welche Uhrzeit das Abendessen begann. Die Mamsell läutete immer mit dem kleinen chinesischen Gong, der unten im Flur auf einem Tischchen stand. Ein kurzer Schlag - dann eine Pause, die gerade reichte, um sich die Haarschleife noch einmal festzustecken -, dann ein längerer Schlag. Wenn er ganz verhallt war, neigte der Vater leicht den Kopf, und Frieda hob den Deckel der Suppenschüssel. Aber war das um sechs oder um sieben? War es draußen schon ganz dunkel, wenn sie am Esstisch saßen? Sie versuchte, sich das Speisezimmer ins Gedächtnis zu rufen, die beiden hohen Fenster rechts von ihr. Aber da waren nur die dichten Vorhänge, und das Licht kam zu jeder Tageszeit von den Kerzen im Deckenleuchter.
    Sie musste zurückgehen. Auch wenn die Dämmerung bedeuten konnte, dass der Drehorgelmann irgendwo am Straßenrand Rast machte und sie ihn so endlich einholen konnte - hinter dieser Biegung dort vielleicht schon. Sie musste umkehren. Es gab keine andere Möglichkeit. Wenn sie jetzt weiterging, konnte es passieren, dass sie nicht nur zu spät zum Abendessen kam, sondern dass die Dunkelheit sie auf der Landstraße überraschte. Vor dem Gutshaus standen zwei hohe Laternen, deren Kerzen jeden Abend angezündet wurden und die sanfte Lichtkreise auf den Boden malten. Hier draußen gab es keine. Sie hatte nicht einmal eine Schachtel Zündhölzer dabei. Wenn es dunkel würde -
wirklich dunkel -, dann würde sie nur das Mondlicht haben. Und der Himmel war wolkig.
    Es tat weh, irgendwo in ihrer Brust, als sie umdrehte. Gleichzeitig fühlte sie sich seltsam erleichtert. Sie machte große Schritte, hörte das Kleid um ihre Beine flüstern und begann schon damit, den Weg zurück ins Gutshaus zu planen, wieder durch die Gartenpforte und dann leise in den ersten Stock hinauf. Wenn sie es hinausgeschafft hatte, würde sie auch wieder hineingelangen, ohne dass jemand es merkte.
    Die Erleichterung hielt nicht lange. Sie ging jetzt so schnell, dass sie außer Atem war, und trotzdem konnte sie dabei zusehen, wie die Schatten größer wurden. Zuerst waren es nur zwei schmale, dunkle Streifen an den Rändern der Straße, dort, wo Büsche, Gräser und Halme sich über die kahle Erde neigten. Es sah ein wenig aus wie die schwarzgraue Spitzenborte am Halsausschnitt der Frau Pastorin. Aber die Streifen wuchsen. Und je breiter sie wurden, desto dunkler wurden sie. Bald fleckten schummerige Stellen die Straße vor ihr, und der Glanz ihrer Stiefelspitzen unter dem Rocksaum wurde matt und fahl.
    Mina bemühte sich, noch schneller zu gehen. Ihre Füße fingen an zu brennen. Das Gewicht der Spieluhr in ihrer Tasche schien sie nach unten zu ziehen. Die losen Steine auf der Straße, die vorhin so lustig gekratzt hatten und vor ihren Stiefeln davongekollert waren, brachten sie nun immer wieder ins Stolpern.
    Jetzt kam sie, die Angst. So, wie das Licht dahinschwand, zog sie auf. Wurde größer mit jedem Rascheln im Gebüsch, das nun gar nicht mehr nach putzigen Kaninchen klang. Wurde finsterer mit jedem Baumschatten, der sich drohend
schwarz über die ganze Breite der Straße legte. Bald musste Mina den Atem anhalten und sich fest auf die Unterlippe beißen, wenn sie solche Stellen überquerte. Und es wurde immer noch dunkler.
    Die Umrisse des Mondes tauchten zwischen den Wolken auf. Sein blasser kalter Schein brachte keine Hilfe. Er schien nur dazu da, die Schatten noch zu vertiefen. Den Ästen der Bäume verlieh er eine seltsame, unheimliche Bedeutung, den Oberflächen der Blätter in den Büschen einen unnatürlichen silbrigen Schimmer. Längst waren die Amseln verstummt. Da waren nur noch Minas eigene hastige Schritte, das fürchterliche Rascheln im Gebüsch und das Rauschen des Windes über den Feldern, das langsam stärker wurde. Sagte man nicht, dass der Tagwind sich am Abend legte? Dieser tat es nicht. Wenn er ihr vorher die losen Haarsträhnen wie mit liebevollen Fingern aus der Stirn gezupft hatte, zog er jetzt mit der Faust daran, hierhin und dorthin, bis sie kaum noch etwas sehen konnte. Sie musste schließlich anhalten und die Kapuze zuziehen, auch wenn das bedeutete, dass sie nicht mehr viel hörte und die Straßenränder nur noch aus den Augenwinkeln beobachten konnte.
    Wie froh sie war, dass sie ihn mitgenommen hatte, den alten Kindermantel! Auch wenn er nicht sehr wärmte, jetzt, wo die Sonne

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