Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
verschwunden war, gab er ihr doch ein ganz schwaches Gefühl von Geborgenheit. Und wenn sie einen Mantelzipfel neben sich im Wind tanzen sah, schien sich sein zartes Blau mit den Farben der Nacht zu vermischen, so dass er ihr beinahe vorkam wie ein Tarnumhang. Vielleicht sah sie so wirklich niemand?
Aber - wer sollte sie denn sehen, hier draußen, zu einer
Zeit, wo sicher längst alle Gongs geschlagen, alle Abendessen bis zum letzten Krümel gegessen waren? Spätestens seit der Mond aufgegangen war, konnte sie sich nicht mehr vormachen, dass sie es noch rechtzeitig zurückschaffen würde. Und zwischen Schatten und Wind schien es auch nicht mehr wichtig zu sein. Sie wollte nur überhaupt nach Hause, irgendwie!
Dann fing es an zu regnen. Kleine, leichte Tropfen zuerst, die kühl auf ihren heißen Wangen zerplatzten. Der Wind nahm sie und warf sie durcheinander. Bald wehten sie ihr unter die Kapuze. Wurden dichter und schwerer und kälter. Mina musste die Hände zurück in die Manteltaschen schieben. Die Spieluhr regte sich nicht unter ihren klammen Fingern. Tief hing sie in dem dünnen Stoff, der immer feuchter wurde. Mina fing an zu laufen.
Durch die Schattenseen, Schattentäler, mit zusammengekniffenen Augen. Wie viele Kurven noch? Feindselige Bäume, die ihre Regenlast über ihrem Kopf ausschüttelten. Wieder ein Rascheln, laut, wie von einem großen schweren Tier, rechts oder links? Sie sprang im Zickzack über die Straße, weg von den Büschen, in denen es knackte, weg vom Feld, in dem es rauschte wie mit riesigen Flügeln. Unter ihren Schuhen löste die Straße sich in Schlamm auf, sie stolperte und fiel, rappelte sich auf und lief mit brennenden Knien weiter, geduckt wie ein Hase. War das da vorne nicht der kleine Platz ganz nah beim Gutshaus, eine runde Verbreiterung in der Straße, wo man rasten konnte an schönen Frühsommer tagen? Ja, ja, da stand der große alte Baum, an den sie sich erinnerte, nach vorne gebeugt, als wären ihm die vielen Blätter zu schwer. Nur ein paar Schritte noch, wenn doch der Regen ihr nicht so in die Augen schlüge!
Wieder stolpern, aufstehen, aufstehen! Noch ein Schritt, und noch einer, und dann - und dann …
Eine Gabelung. Kein Platz. Oh Herrgott, eine Gabelung in der Straße! Aber es gab doch keine! Es gab auf dem ganzen Weg keine einzige Gabelung, keine Abzweigung, keinen Seitenpfad! Aber hier war sie, direkt vor ihr, und der Baum stand zwischen den beiden Wegen, und unter den herabhängenden Zweigen war etwas - etwas Kleines, Weißes …
»Hierher!« Die Stimme ging beinahe in Wind und Regen unter. »Hierher, zum Baum! Schnell, schnell, bevor es zu spät ist!«
Sie hätte nicht sagen können, auch später nicht, warum sie der Stimme folgte. Und niemals sollte sie Worte finden, um zu beschreiben, was sie in jenem Moment empfand, als sie unter den nassen Zweigen hindurchschlüpfte und in dem schwachen, regenfleckigen Nachtlicht sah, dass es der schwarz-weiße Kater war, der dort stand und ihr mit glühenden Katzenaugen entgegenstarrte.
Der Kater, den sonst so schlanken Leib zu einer drohenden Kugel aufgeplustert. Der Kater, den Schwanz steil in die Höhe gestreckt, die langen weißen Schnurrbarthaare gesträubt.
Der Kater?
Eine sehr lange Zeit sagte Mina nichts. Sie stand nur da, während das Wasser von ihrer Kapuze tropfte und ihr gehetzter Atem langsam ruhiger wurde. Der Wind schüttelte die langen Zweige des Baums, aber hier, in der Nähe des Stammes, war es fast trocken und ganz still.
Nach einer Weile senkten sich die Schnurrbarthaare des Katers. Sein Fell wurde glatter, der Schwanz legte sich erst
in einen, dann in zwei Ringel, und schließlich ließ er das Hinterteil auf den Boden plumpsen und fing an, sich zu putzen.
»Sie sind ein ungewöhnlich dummes Mädchen«, sagte er, während seine Zunge mit einem schrapenden Laut über eine Vorderpfote fuhr. Seine Stimme hatte einen eigentümlichen Klang. Sie war rau und gleichzeitig melodisch, hoch und trotzdem voll. Wenn man nicht genau hinhörte, wenn man einfach darüber hinwegging, dass es Worte waren, die aus seinem Maul kamen, dann konnte man es ohne weiteres für ein Maunzen halten. Aber das war es nicht. Nein, das war es nicht.
Mina starrte den Kater an.
»Ich hätte«, sagte er und wechselte die Pfoten, »nicht gedacht, dass Sie sich so dumm benehmen würden. Obwohl ich einiges von Ihnen gewohnt bin in dieser Hinsicht.«
Er sprach sehr klar und deutlich, mit scharfen Konsonanten, die sich anhörten
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