Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
wir das?«
»Nun, natürlich rette ich Sie auch. Wenn Sie gerettet werden wollen. Ich bin mir da noch nicht ganz sicher. Es wäre jedenfalls sehr ärgerlich, wenn sich herausstellen sollte, dass ich vergeblich auf Sie gewartet habe. Bei diesem scheußlichen Wetter.«
Er fing wieder an, sich zu putzen. Sein Kopf war ihr so nah, dass sie deutlich das weiche Fell dicht hinter seinen großen spitzen Ohren sehen konnte. Vor ein paar Stunden hatte sie es noch gekrault.
»Wollen Sie«, Mina sprach stockend, »wollen Sie mir den Weg nach Hause zeigen?« Zuhause. Das Wort allein brachte Wärme, Licht. Bittere Reue. Wie hatte sie nur jemals von zu Hause weggehen können? Wegen nichts, aus einer dummen, törichten Laune heraus? Was war es denn schon mehr gewesen als das? Eine alte Melodie, verblichene Photographien, halbvergessene Erinnerungen. Ein belauschtes Gespräch, von dem sie nur die Hälfte gehört hatte. Wie hatte sie sich von solchen Dingen fortreißen lassen können, in die Nacht, in diese fürchterliche Dunkelheit? Jetzt, hier, in
der Nässe und den Schatten, hätte sie sich selbst ohrfeigen mögen.
Der Kater betrachtete sie nachdenklich.
»Nach Hause?«, fragte er fast sanft. »Zum Gutshof? Was wollen Sie denn dort? Haben Sie sie etwa vergessen?«
»Vergessen? Wen?«
Die Schnurrhaare über seinen Augen bewegten sich heftig. Es sah aus, als würde er die Brauen in die Höhe ziehen.
»Stellen Sie sich nicht noch dümmer. Ich denke, Sie haben sie dort in der Tasche. Ja, es sieht mir ganz danach aus. Die richtige Größe und …«, er schnüffelte kurz, »der richtige Geruch. Also, warum wollen Sie mir etwas vormachen?«
Zart und kalt wehte eine Erinnerung durch Minas Gedanken. Die Erinnerung an ein leises, kaum wahrnehmbares Flüstern, gefangen zwischen den schrägen Wänden des Dachbodens. Sie stand auf, so ruckartig, dass sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte.
»Ich habe nichts und niemanden mitgebracht. Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Und ich glaube, ich will es auch gar nicht wissen. Wenn Sie nicht gekommen sind, um mich nach Hause zu führen, dann … dann bitte sagen Sie mir einfach, welchen Weg ich nehmen muss.«
Tausendschön hörte nicht auf, sich mit den Krallen bedächtig die Stirn zu kämmen.
»Welchen Weg, hm? Nun, das kommt ganz darauf an, nicht wahr? Wie viele Wege sehen Sie denn? Einen? Oder drei? Welcher davon ist Ihrer? Und weshalb glauben Sie, dass ich es weiß? Das Einzige, was ich Ihnen sagen kann, meine Liebe, ist, dass Sie nicht zurückgehen können. Selbst wenn Sie zurückgehen. Oh, natürlich, einer der Wege führt sicher zum Gutshaus. Und natürlich könnten Sie ihn wählen
und in einer kleinen Weile vielleicht auch dort ankommen. Aber zurück - nein, Mina, zurückgehen kann man nie. Können Sie denn ungeschehen machen, was geschehen ist, jetzt, in diesen Minuten, die wir miteinander sprechen? Sie werden die Erinnerung mitnehmen, zweifellos, und sie wird jenen Ort für Sie verändern, den Sie Zuhause nennen. Wohin Sie also kommen werden, wenn Sie einen der Wege wählen … Ich kann es Ihnen nicht sagen.« Er säuberte die Krallen sorgfältig von Fellresten. »Ich jedenfalls würde es wohl nicht tun. Nein. Ich würde keinen dieser Wege nehmen.«
»Aber ich muss nach Hause!« Es fehlte nicht viel und sie hätte mit dem Fuß aufgestampft. »Sie warten auf mich mit dem Essen, ich meine … Sie warten jedenfalls auf mich, meine Eltern werden sich sorgen! Es ist schon lange dunkel, ich war noch nie in der Dunkelheit fort! Ich war überhaupt noch nie fort! Ich muss zurück!«
»Nun, selbstverständlich steht es Ihnen frei, nicht auf mich zu hören. Es ist ganz allein Ihre Entscheidung. Nur - was sagen wir wohl dem lieben Herrn Doktor, wenn wir so zur Tür hineingeweht kommen, nass und verschmutzt und vollkommen aufgelöst?«
Mit einem Mal schien es noch kälter geworden zu sein. Mina versuchte, den dünnen Mantel dichter um sich zu ziehen. Der klamme Stoff ließ sie schaudern.
»Das war gemein«, sagte sie leise.
Tausendschön nickte. »Ja, das war es. Aber notwendig, wie mir scheint. Sie brauchen vielleicht einen kleinen Schubs in die richtige Richtung, oder nicht? Und was glauben Sie, wie gemein erst der Herr Doktor zu Ihnen sein würde, wenn Sie ihm so unter die Augen kämen.«
»Aber wieso?« Sie blickte nach unten, zur Seite. »Wieso sollte er schlecht zu mir sein? Er ist ein Freund meiner Familie. Er kennt mich schon, seit ich ein kleines Mädchen war.«
Die Worte
Weitere Kostenlose Bücher