Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
Vom Netzwerk:
und jetzt, jetzt, das Rasseln von Metall. Mina machte einen Schritt nach vorn, vom Baum fort. Auf die feuchte Erde zwischen den beiden Straßen.
    Ein Horn schrie, klar und klagend. Der Ton ließ Minas Blut erstarren.
    »Wo sind Sie denn?«, flüsterte sie, während sie ganz stillstand. »Ich weiß nicht, wo Sie sind …«
    »Mina, verflucht !« Sie schlug sich vor Schreck auf den eigenen Mund, als sie ihn so fauchen hörte. »Trauen Sie doch den Straßen nicht! Laufen Sie, laufen Sie zum Taterlock!«
    Der Lärm schwoll an, und plötzlich wusste sie, dass er nicht von vorn kam. Sie waren hinter ihr, hinter dem großen Baum, die Hunde, die Pferde und die, die in das Horn bliesen und mit Metall rasselten … Hinter ihr. Auf dem Weg, den sie gekommen war.
    Minas Augen irrten durch die Schatten, über die scharfen Linien der zwei Straßen, die die Nacht zerschnitten. Rechts? Oder links? Welches war der Weg nach Hause? Beide so schwarz, so finster, so abweisend … Ihre Füße tasteten im nassen Gras dazwischen, stockten, zögerten. Was, wenn sie den falschen Weg wählte? Was, wenn es der richtige war? Wieder gellte das Horn, zerriss ihre Ohren. Rechts? Oder links? Oder …
    »Zum Taterlock, Mina! Zum Taterlock!«
    Sie hörte Tausendschön schreien, durch Regen und Wind und Horngekreisch. Drehte verzweifelt den Kopf hin und her, hin und her, bis ihr schwindelte. Und dann, mit einem
Ruck in ihrem Innern, der die Welt aus den Fugen stieß, kam sie plötzlich frei. Sie riss den Mund auf, ohne zu wissen, was sie sagen würde; schluckte Nässe und Finsternis hinunter und rief mit aller Kraft:
    »Ich weiß doch nicht, was das Taterlock ist!«
    Plötzlich war er wieder da, dicht bei ihrem Knie.
    »Wirklich«, keuchte er, »ein ungewöhnlich dummes Mädchen! Sehen Sie das Erlenwäldchen da drüben?«
    Er ruckte mit dem Kopf, über die linke Straße hin, und sie starrte angestrengt in die Dunkelheit. Ja, da war etwas auf dem Feld; ein großer, unregelmäßiger Schemen in der Nacht. Sie nickte zögernd und spürte, wie ihre Zähne dabei aufeinanderschlugen.
    »Merken Sie sich die Richtung gut. Wenn Sie Angst bekommen, schließen Sie lieber die Augen, das wird Ihnen helfen. Und - rennen Sie, Mina, rennen Sie weg von den Straßen, so schnell Sie nur können!«
    Er war fort in einem Schlag ihrer Wimpern, und das Horn gellte wieder, und die Hufe dröhnten. Mina schloss die Augen, umklammerte in der Tasche fest die Spieluhr, sprang mit zwei großen Sätzen über die Straße hinweg und lief blindlings in das Feld hinein.
    Harte Stängel schlugen gegen ihre Beine, verfingen sich im Kleid, Halme rupften an ihrem Mantel. Der Boden gab immer wieder nach, sie strauchelte und stolperte, einen Arm weit vor sich ausgestreckt, nur nicht fallen, nicht hinfallen! Die feuchte Erde klebte an ihren Stiefeln, ihre Beine wurden mit jedem Schritt schwerer, und sicher hatte sie längst die Richtung verloren, blind auf dem offenen Feld, ein lebendes, Haken schlagendes, sichtbares Ziel selbst im Regen. Das Hundegebell wurde immer lauter statt leiser,
immer deutlicher hörte sie die Pferde, und Rufe, schreckliche, wilde, durchdringende Rufe aus ungezählten Kehlen, die auf dem Wind daherkamen und ihr um den Kopf brausten, bis sie sich selbst nicht einmal mehr schluchzen hörte. Sie rannte von den Straßen weg, verzweifelt, eigensinnig; rannte mit zerreißenden Lungen und brennendem Herzen, rannte, bis sie schließlich mit dem ganzen Körper gegen etwas unglaublich Hartes, Unverrückbares prallte und fühlte, wie ihr das Blut aus der Nase schoss und sie zu Boden fiel.
    Sie riss die Augen auf, benommen, presste die Hände auf den beißenden Schmerz in ihrem Gesicht. Ein Baumstamm ragte schwarz vor ihr auf. Keuchend starrte sie ihn an.
    Schnurrhaare kitzelten sie an der Wange.
    »Nicht hier liegen bleiben, Mina.« Tausendschöns Stimme zischte direkt in ihr Ohr. »Kommen Sie, Sie haben es gleich geschafft, nur noch einmal aufstehen, kommen Sie, tapferes Mädchen!«
    Sie versuchte, sich aufzurichten. Ihre Arme sackten unter ihr weg.
    Ich schaffe es nicht, wollte sie flüstern, aber es war nicht einmal hierfür noch genug Luft in ihr. Der Katerkopf stieß gegen ihre Schläfe, warm und erstaunlich kräftig, und irgendwie gelang es ihr, sich auf die Seite zu wälzen und wieder auf die Beine zu kommen, während sie sich an dem glatten Baumstamm festhielt. Das Blut tropfte ihr aufs Kinn. Sie wagte nicht, sich umzusehen. Das Bellen war etwas leiser geworden, oder

Weitere Kostenlose Bücher