Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
kamen ungewollt trotzig heraus.
»Ja, in der Tat, er hat seit vielen Jahren ein sehr scharfes Auge auf Sie, liebe Mina.«
Sie wollte, sie musste widersprechen. Er hatte ihr Puppen geschenkt und Haarnadeln! Er sorgte sich nur um sie, er … Ihr Mund öffnete sich nicht. Anzeichen … Und diese kalte, kalte Stimme …
»Sie werden es verstehen«, sagte Tausendschön, und es klang fast mitleidig. »Ja, meine Liebe, das werden Sie. Wenn Sie es verstehen wollen.«
»Aber ich bin … ich bin nicht …«, wisperte sie, so leise, dass sie es selbst kaum hören konnte. Das Wort, das böse, schwarze Wort, brannte auf ihrer Zunge.
Er richtete seine großen strahlenden Augen auf sie.
»Natürlich sind Sie nicht verrückt«, sagte er ruhig. »Ich unterhalte mich nicht mit Verrückten.«
»Er … ich«, stammelte sie, aber Tausendschön hob plötzlich warnend eine Vorderpfote.
»Still«, fauchte er, »schweigen Sie!«
Mina hielt unwillkürlich den Atem an. Der Regen und der Wind schüttelten immer noch die langen Zweige. Es rauschte und knackte um sie her.
Irgendwo in der Nacht bellte ein Hund.
»Ja«, sagte Tausendschön sehr leise und sehr ernst, wie als Antwort auf eine Frage. »Es ist wohl so weit. Wir haben uns verplaudert, liebe Mina. Nun bleibt keine Zeit mehr für Ihre Fragen, und Sie müssen sich sofort entscheiden.«
Er stand auf und streckte sich, erst die Vorder-, dann die Hinterbeine.
»Kommen Sie.«
»Aber wohin?«
Ein zweites Bellen und rasch danach ein drittes. Minas Herz machte einen Sprung.
»Das sind die Hunde vom Gut! Sie kommen mich suchen!«
»Oh ja.« Tausendschön war schon halb zwischen den tropfenden Zweigen verschwunden. »Man sucht Sie wohl. Aber Sie wollen sich kaum von ihnen einfangen lassen.«
»Warum nicht?« Sie sah ihn kaum noch, nur hier und da ein Fleckchen Weiß, das sich schnell bewegte. Seine Stimme klang schon entfernt und sehr ungeduldig.
»Haben Sie Ihre hübschen Ohren nur zur Verzierung Ihres Kopfes? Können Sie wirklich nicht hören, wer da nach Ihnen ruft?«
Mina drängte sich entschlossen zwischen die Äste. Kühle, nasse Blätter strichen ihr über das Gesicht. Sie musste die Augen schließen und sich mit ausgestreckten Händen durch den Baum tasten, am Stamm vorbei, bis der Regen sie plötzlich direkt traf, hart und schräg von oben. Sie öffnete die Augen wieder.
Sie stand auf der anderen Seite des Baumes. Und da waren die beiden Wege, rechts und links, so deutlich und so wirklich wie zuvor. Liefen am Baum vorbei, jeder noch ein paar Meter weit sichtbar, um dann in Dunkelheit zu verschwinden. Sie hielt sich eine Hand über die Augen. In ihrem Rücken rauschte der Baum.
»Wo sind Sie? Herr Tausendschön? Welchen Weg muss ich nehmen?«
Wieder ein Bellen, sehr viel näher diesmal. Es klang laut und herausfordernd, und ein tiefes Grollen schwang darin mit. Mina spürte eine Gänsehaut ihre Arme hinaufkriechen.
»Herr Tausendschön?«, fragte sie noch einmal, aber sehr viel leiser.
»Mina«, antwortete seine Stimme von irgendwoher, dringend, entschieden. »Mina, bitte lauschen Sie. Lauschen Sie mit aller Kraft. Und wenn Sie wissen, was es ist, das Sie da hören, dann zögern Sie nicht. Zögern Sie keine Minute! Welchem der Wege trauen Sie? Welchen wollen Sie nehmen? Sie müssen es selbst entscheiden. Und beeilen Sie sich, Mina! Sie haben nicht mehr viel Zeit!«
Der Wind schrie ihr jetzt ins Ohr, die Hunde bellten; und dann waren sie da, die Bilder, in furchtbarer Deutlichkeit. Aufgerissene Rachen, rotglühende Nüstern. Weiße Zähne, blutiges Fleisch. Die Wilde Jagd …
Mina schüttelte heftig den Kopf. Die Wilde Jagd? Ganz schwach erinnerte sie sich noch an ein altes Sagenbuch, aber das war nur Papier, Zeichnungen und Farbe und Buchstaben … Ihr Herz klopfte.
»Das ist nur ein Märchen«, flüsterte sie, während das Bellen näher kam und sie spürte, wie ihre Hände zitterten. »Nur ein altes Kindermärchen, keine Wirklichkeit …«
»Natürlich ist es kein Märchen!« Jetzt verstand sie seine Worte kaum noch, so scharf war das Fauchen und Zischen geworden. »Es ist eine Sage, aber was macht das jetzt für einen Unterschied? Mina, Sie müssen sich entscheiden! Wollen Sie die verrückte Mina sein, die man mit den Gutshunden nachts von der Landstraße sammelt? Oder wollen
Sie vielleicht einfach dem trauen, was Ihre Ohren Ihnen sagen?«
Hufschläge, da waren Hufschläge unter dem Hundegebell. Sie hörte es genau. Hufschläge, Schnauben und Wiehern
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