Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
Mademoiselles Scheitel, und sie hörte nichts; nichts bis auf das Lied der Spieluhr und das Klappern der Nadeln, die sich weiterbewegten, auf und ab, hin und her, Runde für Runde.
Sie konnte nicht aufstehen. Sie konnte nicht fortgehen.
Nicht, bevor nicht all die brennende Wolle zu Kinderhemden gestrickt war. Aber für wen nur? Für wen?
Die Spieluhr spielte.
Mina erwachte mit nassen Augen. Ihr ganzer Körper war so steif, dass es sich einen Moment lang anfühlte, als steckte sie immer noch eingezwängt in der Schulbank. Und da war auch das Lied, immer noch, auch wenn es viel näher klang …
»Bist du jetzt wach, Gadsche-Mädchen?«
Lichtfünkchen tanzten zwischen zwei braunen Jungenhänden. Da war sie, die Spieluhr; nicht in ihrem Mantel, der zerdrückt und fleckig unter der Decke hervorschaute, sondern dicht neben ihrem Kopf, auf dem Schoß eines kleinen Jungen, der sie unverwandt ansah. Seine unordentlichen Locken standen schwarz wie ein Scherenschnitt gegen den hellen Himmel.
Mina blinzelte und setzte sich vorsichtig auf.
»Was … was machst du da?«, fragte sie benommen. Ihr Hals fühlte sich wund an.
»Ich bewache dich«, sagte der Junge und lächelte stolz. »Bis die Großen zurück sind. Ich bin alt genug, um das zu tun.«
Mina blickte sich um. Schlanke Bäume umschlossen die Senke, in der sie saßen, von allen Seiten. Kein düsteres, fremdartiges Gewirr; ein helles Muster aus glänzenden Stämmen und jungen Blättern, auf denen der Morgentau schimmerte. Auch das Gras unter ihren Knien war feucht. Feucht und grün. Sie strich mit den Fingern durch die Halme, mit dem vagen Gefühl, nach etwas zu suchen, von dem sie nicht wusste, was es war. Aber was sie sah, war nicht mehr als ganz gewöhnliches Gras.
Das Taterlager um sie her lag verlassen da. Nur ein paar Bündel aus grobem Tuch, sorgsam verschnürt, eine erloschene Feuerstelle und die dunkle Stoffplane halb über ihr, zwischen langen Stäben aufgespannt. Sie flatterte in dem leichten Wind, der durch die Senke strich. Keine Wände, nicht einmal überhängendes Tuch an den Seiten. In ihrem ganzen Leben hatte Mina noch nie im Freien geschlafen. Aber unter der leisen Melodie war alles um sie her still und seltsam friedlich.
Der Junge zog die Spieluhr wieder auf, bevor sie noch ganz verstummt war. Die Kristallreste drehten sich zwischen seinen runden Kinderhänden, und erst jetzt dachte Mina daran, sie ihm wegzunehmen. Es war ihre Spieluhr, oder nicht? Er musste sie aus ihrem Mantel gezogen haben, während sie geschlafen hatte. Sie war nicht einmal aufgewacht … Taterjunge, dachte Mina. Zigeunerkind. Wie sagte die Mamsell immer?
Diebische Elstern, die Kinder wie die Alten. Von denen kommt mir keiner in meine Küche.
Aber der Junge saß so friedlich da und betrachtete die tanzenden Glasreste so gebannt, und vielleicht hatte er noch nie ein so feines Spielzeug gesehen, selbst wenn die Figuren zerbrochen waren. Mina beschloss, großmütig zu sein.
»Wie meinst du das - Gadsche-Mädchen?«, fragte sie, anstatt ihm die Spieluhr aus den Händen zu ziehen, und versuchte, sich bequemer hinzusetzen.
»Du bist eins.« Der Junge sah nicht auf. »Ich soll nicht mit ihnen spielen, mit den Gadsche-Kindern. Aber ich spiele ja nicht. Ich bewache dich nur. Das ist in Ordnung, hat Lilja gesagt.«
Nicht mit ihr spielen? Mina zog empört die Augenbrauen zusammen, ließ es aber gleich wieder sein, als heiße Schmerzen sie in die Nase bissen. Sehr vorsichtig berührte sie sie mit zwei spitzen Fingern. Sie fühlte sich an wie eine verkrustete Knolle.
»Wer ist diese Lilja?«, fragte sie und ließ die Hand wieder sinken. »Wieso denkt sie so über mich? Sie weiß doch gar nichts von mir.«
Der Junge lächelte versunken auf die Spieluhr hinunter. »Doch«, sagte er, »sie weiß, dass du ein Gadsche-Mädchen bist.«
Mina schnaufte. Der Junge sah so aus, als wäre er fünf, höchstens sechs vielleicht. Wahrscheinlich war er einfach noch zu jung, um sich vernünftig zu unterhalten.
Sie sagte nichts, drehte nur den Kopf ein wenig zur Seite, wie sie es von Mademoiselle gelernt hatte.
»Du bist schmutzig«, sagte der Junge, und er sagte es nicht einmal unfreundlich, ganz leichthin, als ob er feststellen würde, dass die Sonne schien. »Wirklich schmutzig. Du hättest lieber mit Rosa und Pipa zum Bach gehen sollen.«
Mina zuckte zusammen. Sie sah es selbst, die braunen Flecken auf ihren Händen, die Dreckklumpen, die an ihren Mantelfalten hingen und - sie strich
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