Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
riss den Kopf hoch und starrte den Jungen an.
»Was hast du damit gemacht?«
Er legte den Kopf auf die angezogenen Knie.
»Nichts.« Er war noch zu jung, um zu lügen, das schiefe kleine Lächeln, das so gern zu einem prustenden Lachen werden wollte, verriet ihn.
Mina stemmte die Hände in die Seiten, wie Mamsell es immer tat, wenn sie streng wurde.
»Gib mir das Medaillon sofort zurück. Es gehört dir nicht. Es ist Diebstahl, wenn du etwas nimmst, was dir nicht gehört.«
Zigeuner, dachte sie. Sie kennen keinen Unterschied zwischen Mein und Dein. Diebische Elstern.
Aber der Junge zog die Brauen zusammen und presste die Lippen aufeinander. Seine runden Augen wurden düster.
»Ich habe es nicht gestohlen«, sagte er laut. »Du hast geschlafen, ich habe mir alles nur angesehen. Und die Schublade ist von selbst aufgegangen. Ich habe nichts gestohlen!«
»Und wo ist es dann?«
Mina konnte deutlich sehen, wie gekränkt er war. Vielleicht klang ihre Stimme deshalb so scharf.
»Wenn du es nicht weggenommen hast, ist es dann vielleicht von selbst weggeflogen?«
Jetzt schimmerten Tränen in seinen Augen. Sie hatte nicht gewusst, dass sie so sehr wie Mamsell klingen konnte. Mamsell konnte das Küchenmädchen mit einem einzigen eisigen Wort dazu bringen, dass es sich die Schürze vors Gesicht presste und aus der Küche lief … Mina holte noch einmal tief Luft.
»Es ist«, sagte sie sanfter, »vielleicht irgendwie … gefährlich, weißt du. Es wäre wirklich besser, wenn du mir sagst, wo es ist.«
Er wischte sich über die Augen. Dann zeigte er auf einen der niedrigen Büsche in der Nähe, ohne hinzusehen.
Etwas glänzte dort, warm und golden. Mina verfing sich fast in ihrem Kleid, als sie zu dem Busch stürzte. Das Medaillon hing an seiner Kette in den Zweigen. Der Junge hatte es aufgeklappt.
Und da waren sie.
Das Papier der Bilder war so alt und blank, dass die Farben der Umgebung sich auf ihm spiegelten. Ein Hauch von grünen Blättern und blauem Morgenhimmel lag auf den beiden Jungengesichtern, machte sie deutlicher, lebhafter als jemals zuvor. Ein Funkeln schien in den Winkeln der zwei Augenpaare zu liegen, die sie nachdenklich betrachteten. Ein wenig sah es so aus, als blinzelten sie in der Sonne.
Minas Herz klopfte laut. Sie musste sich dazu zwingen, ihr Gesicht ganz nah an die Photographien zu bringen, so nah, dass ihre Haut das glatte Papier beinahe berührte. Sie roch den Staub des Dachbodens. Einzelne Haare, die ihr in die Stirn gefallen waren, strichen über das Papier und wisperten.
Darunter war alles still. Still und gewöhnlich. Nur zwei alte Bilder von zwei Jungen, die sie nicht kannte, zwei Lächeln, die ihr Geheimnis nicht verrieten. Nichts, was sich verändert hätte, kein Zeichen, kein Hinweis. Kein - schwaches Flüstern über dem Gras. Nicht der kleinste Grund zu glauben, das, woran sie sich so lebhaft erinnerte, wäre tatsächlich wahr gewesen.
Sie schlug die Hände vors Gesicht. Die Tränen kamen, ohne dass sie wusste, woher, machten ihre Wangen nass, rannen zwischen ihren Fingern hindurch. Sie drehte sich weg von den Bildern und hörte sich dabei schluchzen, so laut und jämmerlich wie das Küchenmädchen.
»Ich dachte nur, sie wollten sich vielleicht sonnen.«
Unter tränenschweren Wimpern blinzelte Mina über ihre Fingerspitzen. Der Junge stand neben ihr, sah sie hilflos an; hatte eine Hand halb erhoben, als wollte er sie streicheln. Am liebsten wäre sie weggelaufen. Durch das Wäldchen, den Weg zurück über die Landstraße und nach oben in ihren Dachboden, wo sie das Gesicht in alten Leintüchern vergraben konnte. Wo beinlose Kommoden und blinde Spiegel ihr stumm beim Schluchzen zuhörten und sie mit ihrem staubigen Schweigen umgaben, bis der Kummer nachließ. Und dann kaltes Wasser aus dem Krug im Schlafzimmer und die Haare gekämmt, und alle Spuren waren fortgewischt. Nur Kinder weinten in der Öffentlichkeit.
Aber bis zum Dachboden war es unendlich weit, und das braune Gesicht neben ihr wirkte so ratlos, so verwirrt. Als das Aufschlucken aus ihrem Inneren nachließ, wischte Mina sich die Tränen mit einem Mantelzipfel ab.
»Besser«, sagte der Junge und lächelte; ein kurzes, scheues Lächeln.
Es ging nicht anders, Mina schniefte.
»Hast du ein Taschentuch?« Ihre Stimme klang ganz klein.
Er schüttelte den Kopf und zog gleichzeitig die andere Hand hinter dem Rücken hervor. Ein großes grünes Blatt lag darin, mit geschwungenen Rändern. Er hielt es ihr hin, und
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