Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
den hellblauen Stoff über dem Knie beiseite und nickte bekümmert - an dem kostbaren Konfirmationskleid. Um ihr Gesicht und ihre Haare war es sicher noch schlimmer bestellt. Einer Dame, dachte sie traurig, einer Dame wäre das nie passiert…
»Und wer«, schnappte sie zurück, »sind nun wieder Rosa und Pipa? Sagen die auch, dass ich ein Gadsche-Mädchen bin?«
Jetzt blickte der Junge auf. Seine Augen waren groß und
rund und so dunkel, dass sich die Farbe des Grases in ihnen spiegelte, so, als blickte man durch grün schimmerndes Wasser hinab in einen stillen Weihergrund. Die Lichtfünkchen, die die Spieluhr immer noch aussandte, tanzten wie winzige helle Fische hindurch.
»Warum bist du böse?«, fragte der Junge ruhig. »Man wird eben schmutzig. Dann wäscht man sich. Das ist wichtig, sagt Lilja. Besonders vor dem Essen. Ich«, das breite, stolze Lächeln malte sich wieder auf sein braunes Gesicht, »ich war schon ganz früh am Bach.«
Essen … Minas Bauch krampfte sich plötzlich zusammen. Wie lange war es her, dass sie etwas gegessen hatte? Und wie spät war es jetzt? Sicher spät genug, damit Frieda zu Hause die vorgewärmte Kaffeekanne auf das weiße Tischtuch stellte und die gehäkelten Eierwärmer an ihren Plätzen verteilte; und das Johannisbeergelee leuchtete in seinem Glassschälchen, und unter der Serviette duftete das frische Brot.
Mina biss sich auf die Unterlippe. Zu Hause! Die Benommenheit fiel schlagartig von ihr ab. Zu Hause! Sie hatte das Abendessen versäumt, sie war fortgelaufen! Sicher suchte schon das ganze Gut nach ihr. Der Vater hatte bestimmt den Wagen anspannen lassen und fuhr wie rasend die Landstraßen entlang. Die Mutter lief durch den Garten, rief und rang die Hände und sah hinter jeden Busch, oder sie schickte die Mädchen zu den benachbarten Gütern, um nach Mina zu fragen, oder sie …
Das Etwas in Mina, das eben noch hatte aufspringen wollen, nach Hause laufen auf dem schnellsten Weg, setzte sich langsam wieder, ohne dass Mina sich bewegt hätte. Ein Bild formte sich hinter ihrer Stirn, so klar, dass sie es beinah
hätte berühren können: der Damensalon mit seinen roten, schweren Portieren und dem zierlich geschwungenen Sofa, und darauf die Mutter, unter dem karierten Plaid, das Riechfläschchen in der Hand, den Kopf zurückgelehnt, die Augen halbgeschlossen … War da eine Gestalt, die sich fürsorglich über sie beugte? Ein Funkeln von Brillengläsern in dem samtigen Licht? Eine ruhige, feste Hand, die sie zurück in die Kissen drückte, und die Mutter gehorchte ergeben, mit einem ihrer schwachen Seufzer.
Mina presste die Augenlider zusammen, um das Bild zu verjagen. Aber die Dunkelheit, die ihm folgte, war nicht besser. Die Landstraße entrollte sich vor ihr, die Schatten, der Wind und der Regen; sie hörte das heisere Hundebellen wieder, und dann das Horn, dieses furchtbare Horn …
Sie schauderte, wie in einem bösen Traum, so düster und fremd, dass er noch im hellen Morgenlicht an den Wimpern klebte und die Welt mit einem grauen Schleier bedeckte. Ein Seufzen kroch über ihre eigenen Lippen, schwach und kläglich, und schleppte auf dem Rücken ein einziges Wort mit sich: »Verrückt.«
Irgendwo bellte ein Hund.
Der Junge sah auf. »Was hast du gesagt?«
Mina schüttelte den Kopf, streckte die Hand nach der schweigenden Spieluhr aus. Ihre Finger zitterten, wie ihre Stimme.
»Gib sie mir.«
Der Junge sah von ihr zur Spieluhr und wieder zurück. Sein weicher Mund krümmte sich ein wenig nach unten. Er zuckte die Schultern und hielt ihr das kleine Kästchen hin, und als sie es nahm, war es noch ganz warm von seinen Händen.
Mina atmete tief ein. Die Kristallreste glitzerten ihr entgegen, das Holz schmiegte sich sanft in ihre eigenen Handflächen. Es wäre so leicht gewesen, es dabei zu belassen. Nicht mehr zu tun, als die Kurbel ein paarmal zu drehen, der kleinen Melodie zu lauschen. Verborgen zu lassen, was verborgen gehörte.
Aber sie klappte den Deckel schon auf, während sie noch daran dachte, es nicht zu tun. Fand die Haarnadel, tastete nach dem winzigen Loch in der Ecke. Hörte das Klicken, mit dem der versteckte Mechanismus ansprang. Als die geheime Schublade heraussprang, zitterten Minas Hände so sehr, dass sie sie beinahe fallen ließ.
Aber der verblichene Samt sah ihr blind entgegen. Da war nichts, kein funkelndes Medaillon, nicht einmal die feine Kette, an der man es sich um den Hals hängen konnte. Nur ein schwacher Abdruck, sonst nichts.
Mina
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