Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
Der Sommerwind flüstert ihn nur. Das knackende Eis auf den Seen, die summenden Bienen unter den Birnbäumen - alle haben einen eigenen Namen für ihn.«
Sie zwinkerte Mina zu.
»Keine Angst, man muss sie nicht alle kennen. Die Menschen machen es sich meistens leichter. Viele sagen Karol zu ihm.«
»Karol …« Mina probierte die Silben vorsichtig. Auch sie schmeckten fremd, und gleichzeitig vertraut, wie eine alte Photographie in einem neuen Rahmen. Der Name passte gut zu den Wellen in seinen schwarzen Haaren.
Sie nickte und hob dann fragend die Augenbrauen.
Lilja schüttelte den Kopf. »Er wird nicht mit uns kommen.«
Protest lag Mina auf der Zunge. Sollten sie ihn einfach unter der Weide liegen lassen? Was, wenn es regnete, oder die Nacht fiel, oder wenn jemand kam? Er hatte nicht einmal die Drehorgel gehört, die dicht neben ihm spielte … Aber ihr Stiefel strich durch Gras und Blätter, und für einen Augenblick kam es ihr so vor, als ob es wieder zartblau unter dem Grün aufleuchtete. Sie schwieg, und Lilja nickte ihr zu.
»Komm, Mina. Du musst Hunger haben.«
Und, gütiger Himmel, den hatte sie.
Das Sonderbare war, dass das Essen der Tater nicht viel anders schmeckte als das, was sie vom Gutshof kannte. Es fehlten vielleicht ein paar Dinge - das Johannisbeergelee, die sahnige Butter, der Kaffee, dessen zuckrigen Rest Mina aus der Tasse des Vaters löffeln durfte, solange sie klein war. Und vielleicht gab es von dem, was Rosa auf einem bunten Tischtuch ausbreitete, etwas weniger als zu Hause. Aber da war ein Laib Brot mit aufgesprungener Kruste, braune Eier in einem Strohkörbchen voller Flaumfedern; dicker Sirup in einem klebrigen Glas, ein großes Stück gelber Käse.
Es machte nichts aus, dass das Tischtuch eigentlich kein Tischtuch war, weil es auf der Wiese lag. Und wenn man keinen Teller hatte und der Sirup zäh vom Brot tropfte, dann hielt man die Hand eben über das Gras. Lilja hatte ein großes Messer, mit dem schnitt sie für alle genug Scheiben vom Laib, ohne dass man darum bitten musste. Pipa lachte sogar, als Mina höflich »danke« sagte.
»Gadsche-Mädchen!«
Aber Lilja sah Pipa mit ihren dunklen Augen an, und das Mädchen senkte den Kopf.
»Ich habe es nicht so gemeint«, murmelte sie.
Rosa lächelte Mina an.
»Du musst dich nicht bedanken für das Essen«, sagte sie und schob Mina noch eine zweite Scheibe hin. »Jedenfalls nicht bei uns. Bedank dich beim Korn auf dem Feld, wenn du willst, bei den Hühnern und bei den Rüben. Wir machen es nicht, wir ernten es nur.«
»Wie die Vöglein unter dem Himmel …«
»Was?«
Mina hatte nur laut gedacht. Unter Rosas fragendem Blick musste sie den Satz zu Ende bringen.
»Die Vöglein«, sagte sie leise und beschämt. »Sie säen nicht und ernten doch …«
Aber Rosa lachte nur.
»Ja, das stimmt wohl. Säen tun wir nichts. Auf welchen Acker denn auch? Wir ziehen herum und singen und picken die Körnchen auf.«
»Aber«, Mina räusperte sich, »davon kann man doch nicht leben … vom Singen zum Beispiel, meine ich.«
Sie wusste, dass sie neugierig war. Und als Lilja sich ihr zuwandte, fürchtete sie schon halb einen Tadel.
»Nein«, sagte Lilja, »oft kann man das nicht. Die Häusermenschen sehen heute nicht mehr viel Wert in Liedern und bunten Tänzen, wenn sie nicht auf einer Bühne aufgeführt werden. Und manchmal glaube ich, sie denken, dass man es nur zum Vergnügen tut.«
Pipa schnaubte. »Ja, vor allem die Kinder. Sie stehen da in ihren feinen Kleidern mit den eingewickelten Pfennigen in der Hand und gaffen und gaffen.«
Mina sah weg. Sie fühlte es noch, das sorgsam glattgestrichene Zeitungspapier, in das Mamsell immer das Geld eingeschlagen hatte, damit sie es zu den Drehorgelleuten im Hof brachte.
»Sie haben nicht viel Musik in ihren Häusern«, sagte Lilja ruhig. »Man kann es ihnen nicht zum Vorwurf machen.«
Pipa bohrte mit dem Finger in eine Brotscheibe und schwieg.
»Wir nähen auch«, sagte Rosa. »Ich kann säumen wie die beste Schneiderin. Wenn du willst und Lilja noch Flicken übrig hat, helfe ich dir nachher mit deinem Kleid.«
Sie nickte zu den Falten hin, die über Minas Knien lagen, und als Mina ihrem Blick folgte, sah sie plötzlich überall
Risse und Flecken, Wunden im kostbaren Stoff, die die wilde Flucht geschlagen haben musste. Entsetzt starrte sie darauf. Wie sollte sie überhaupt jemals wieder nach Hause gehen, in diesem teuren Kleid, das so zugerichtet war?
Rosa nickte ihr im Weitersprechen
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