Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
Vom Netzwerk:
oder her.

    Die Sonne war höher den Himmel hinaufgeschlendert, das Gras im Taterlock leuchtete grüngolden. Es würde ein warmer Tag werden. Die Landstraße war sicher längst getrocknet und lag wie eine Eidechse behaglich ausgestreckt zwischen den Feldern. Keine Spuren mehr von nächtlichen Schatten; nur ein längerer Spaziergang im Sonnenschein, bis das Gutshaus hinter seinen Bäumen auftauchte, breit und behäbig. Zeit, die Haustür zaghaft zu öffnen, nach dem Klackern von Mamsells Absätzen zu lauschen. Kühle, trockene Luft im Flur, das Glänzen der Kacheln unter ihren Füßen. Geruch nach Pfeifenrauch von irgendwoher, das Singen der Mädchen unten in der Küche. Zeit, nach Hause zu gehen, ja.
    Mina wusste es, und sie wusste auch, dass sie es nicht tun würde.
    Von dort, wo sie saßen, konnte sie den Drehorgelmann Karol in seinem Weidenbett nicht sehen, und die Spieluhr, die sie wieder in die Tasche geschoben hatte, war stumm. Aber sie fühlte, dass er noch da war, unter den silbergrünen, schmalen Blättern schlief, die sanft auf sein Gesicht niederfielen; auf dieses blasse, traurige Gesicht … Sie hörte sein Schweigen im Wind, der das Gras zauste. Er hatte ihr keine Antworten gegeben.
    Aber jetzt wusste sie die Frage. Und sie würde sie nicht wieder vergessen können.
    Eine Erinnerung strich kühl durch ihre Gedanken. Die feinen Härchen auf ihren Unterarmen richteten sich auf.
    Wenn du nur an deine liebe Schwester Elisabeth denkst …
    Sie räusperte sich, sagte in die Luft hinein:
    »Ich habe eine Tante. Meine Tante Elisabeth.«
    Lilja faltete die Decke zusammen.

    »Und du denkst, dass sie dir helfen kann?«
    Mina zuckte die Schultern. Dachte sie das? Mit dem Namen verbanden sich nur vage, verwaschene Bilder. Als sie noch klein gewesen war, hatten sie die Tante hin und wieder besucht, in einem Dorf, nicht weit vom Gut. Weiß leuchtende Mauern hinter einem schattigen Park. Geblümter Stoff, das Klappern von Teegeschirr, Kinderlachen. Sie hatte einen Keks gegessen, der mit Marmelade gefüllt war, und die Marmelade war dick und rot auf ihr Kleid getropft. Helle Frauenstimmen, die lachten, als sie anfing zu weinen; Arme, die sie hochhoben und an eine Brust drückten, und die Gemmenkette dicht vor ihrem Gesicht war beinahe wie Mutters gewesen: ein Mädchenkopf mit Schnecken über den Ohren, nur in die andere Richtung gewandt.
    Tante Elisabeth.
    Wann hatte es aufgehört, dass sie sie besuchten? Vor zwei oder drei oder vier Jahren?
    Zögernd nickte Mina.
    Lilja schlug die Decke in ein ordentliches Viereck und schob sie in eines der Bündel. Sie trug keine Halskette. Als sie sich vorbeugte, schwangen nur die langen Haare nach vorn, bis sie fast den Boden berührten; und die silbrigen Feenglöckchen an ihren Armreifen klingelten leise.
    »Weißt du, wo sie wohnt?«
    »Ich glaube. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich …« Mina senkte den Blick, was sie sagen wollte, kam ihr unverschämt vor, so wie Lilja es verstehen musste. »Ich bin nicht sicher, ob ich von hier aus dorthin finde.«
    Irgendwo hinter ihr kicherte Pipa über irgendetwas. Mina spürte, wie ihre Wangen heiß wurden, und sie kniff die Lippen zusammen. Je deutlicher sie sich an die Tante erinnerte,
desto verlockender kam ihr der Gedanke an einen Besuch vor. Ein Haus, ein Garten. Kaffee und Kuchen auf der Veranda. Das Rascheln von gestärkten Schürzen. Artige Fragen, auf die es artige Antworten gab. Und niemand, der sie auslachte, weil sie Dinge nicht wusste, die kein gut erzogenes Mädchen wissen musste.
    Sie hob das Kinn.
    »Doch, ich denke, ich finde es wieder.«
    Sie raffte Kleid und Mantel zusammen, um aufzustehen.
    Aber Lilja ließ das Bündel auf den Boden sinken und hob eine Hand, der Ärmel des grünen Kleides rutschte ihr dabei bis zum Ellenbogen hinunter. Sie sagte nichts, aber ihre dunklen Augenbrauen zogen sich zusammen, bis sie sich fast berührten. Es sah aus, als ob sie auf etwas lauschte.
    Einen Moment später hörte Mina es auch. Hundebellen; hatte sie es heute nicht schon öfter gehört? Es klang entfernt, aber doch nah genug, dass sie das wütende Grollen hören konnte, das jedem Aufbellen vorausging. Schauder kribbelten in ihren Fingerspitzen, obwohl es heller Tag war.
    Rosa stellte sich neben sie, mit Zinni an der Hand. Er hatte den Daumen in den Mund geschoben, ohne daran zu nuckeln; wie der Vater zu Hause, wenn er sich über die Pächter aufregte und sich mit der kalten Pfeife im Mundwinkel beruhigte.
    »Pipa«, sagte Rosa

Weitere Kostenlose Bücher