Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
wirkte eher wie ein Junge als ein Mann, schuldbewusst und gleichzeitig hoffnungsvoll.
»Es gibt keine kleinen Küsse.« Rosas Stimme hatte nichts Verspieltes an sich. Sie drehte sich nicht zu ihm um. »Es gibt nur Lippen und Atem, und entweder sie berühren einander, oder sie tun es nicht. Bei dir tun sie es immer, wie es scheint.«
Sie stemmte die Fäuste in die Hüften und ließ gleichzeitig den Kopf nach vorn sinken. Es sah aus, als hätte sie Schmerzen, im Bauch oder in der Brust.
»Gütiger Himmel, Viorel! Wie lange warst du allein in dem Dorf? Eine halbe Stunde, oder noch weniger? Ich weiß, dass du mit Nad gegangen bist und mit ihm wiederkamst, an dem Tag, als Tausendschön Mina zu uns gebracht hat. Kannst du nicht einmal mit einem Dorfmädchen reden,
ohne dass es gleich in Küssen endet? Nad hätte dich besser gar nicht allein lassen sollen.«
»Ich bin kein kleines Kind, Rosa.« Viorel legte den Kopf in den Nacken und ließ die Arme sinken.
Sie schnaubte.
»Nein, das bist du wirklich nicht. Bei einem Kind müsste ich mir höchstens Sorgen machen, dass es in einen Bach fällt oder den Weg zurück nicht findet. Du würdest ihn nur dann nicht finden, wenn du ihn nicht mehr finden willst. Vielleicht ist das ja so …«
»Rosa, sei nicht albern.« Er schüttelte den Kopf, traurig, wie es schien; aber ein harter Ton lag jetzt unter den Worten. Vielleicht merkte er es, denn er verstummte wieder. Für eine Weile schwiegen sie beide.
Mina kniete hinter den Sträuchern, beide Hände vor dem Mund; nicht aus Furcht vor den Geräuschen, die ihr entschlüpfen und sie verraten konnten. Sondern vor den Worten, die dort auf der nächtlichen Lichtung noch fallen würden.
Es sollte nicht sein, dass Rosa so zornig und so bitter sprach. Es sollte nicht sein, dass die beiden so weit auseinanderstanden, Meter und Meter kalter dunkler Luft zwischen sich, zwischen den Wangen, die sie doch so vertraut aneinanderschmiegten, wenn sie sich abends ihr Plätzchen im Moos suchten. Es musste ein schlimmer Traum sein, den Mina träumte, und sie wünschte sich, dass er aufhörte, bevor er noch schlimmer wurde.
»Ich frage mich nur«, sagte Viorel und trat gegen einen Ast, der mit lautem Knacken brach, »wer dir davon erzählt hat. Der alte Kater vielleicht? Oder hat er es dem feinen kleinen Fräulein gesagt, und das Mädchen musste es dir
weitertratschen? Am Bach vielleicht, beim Waschen? Warum kommst du mir erst jetzt damit, wolltest du sie decken, hat sie sich gefürchtet, dass ich es sonst herausfinde und wütend werde? Oh ja, ich weiß schon, wie solche Mädchen sind …«
Mina biss sich auf die Lippe. Wie bitterscharf sein Lachen klang.
Aber Rosas Stimme schnitt dazwischen wie ein Messer, das über Steine gezogen wird.
»Ja, das weißt du, und das weiß ich auch. Wie gut ich das weiß! Ich habe Augen im Kopf, und glaubst du nicht, ich hätte nicht gesehen, wie du sie angelächelt hast? Ein so junges Mädchen! In Verlegenheit hast du sie gebracht mit deiner Art, sie wusste ja kaum, wohin sie sich wenden sollte, als du ihr den Stiefel ausgezogen hast!«
»Ich wollte nur helfen«, sagte er laut, aber Rosa schnaubte zischend durch die Nase und fuhr zu ihm herum. Zum ersten Mal sah Mina schwach ihr Gesicht. Es schimmerte vor Tränen.
»Und in dem Dorf, da wolltest du auch nur helfen, ja? Was hatte denn das Mädchen, das sich mit einem Kuss heilen ließ? Herzweh vielleicht? Lügner!«
»Vielleicht«, sagte er schnell und harsch, »sollte Lilja dir auch etwas zu trinken geben, dass du nicht mehr solchen Unsinn reden kannst.«
Es knackte in den Sträuchern, keine drei Schritte von Mina entfernt. Sie riss den Kopf herum. Zwischen den dornigen Zweigen starrte Pipa sie wütend an. Ihre roten Haarschleifen hatten sich in den Ranken verfangen.
Auf der Lichtung sah Viorel sich suchend um.
»Das«, sagte Rosa leise und rieb sich über die Arme, als
ob sie fröre, »das war eine der gemeinsten Bemerkungen, die ich je von dir gehört habe. Ich glaube nicht, dass ich noch weiter mit dir reden will.«
»Ist mir nur recht«, brummte er und hörte nicht auf, sich dabei umzusehen. Mina machte sich so klein wie möglich. »Ich habe dich um Verzeihung gebeten, aber du willst dich ja über Nichts aufregen. Selbst die Füchse schreckst du auf mit deinem Geschimpf.«
Rosa antwortete nicht. Sie verließen die Lichtung, nicht zusammen, hintereinander, mit weitem Abstand dazwischen. Mina hörte keinen Schritt, keinen Laut. Mit angehaltenem Atem
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