Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
zählte sie bis zehn. Als sie bei neun angekommen war, knackten die Sträucher wieder, und Pipa packte sie fest am Arm.
»Was hast du hier zu suchen, Gadsche«, zischte sie. »Das geht dich nichts an! Warum bist du nicht unter deinem feinen Mantel und schläfst? Sie ist meine Schwester, nicht deine!«
Mina starrte sie an. Es fiel ihr nicht mehr ein, als immer wieder den Kopf zu schütteln, so heftig, dass ihr die Haare über das Gesicht wischten. Aber das schien Pipa nur noch wütender zu machen.
»Das ist nicht sehr vornehm, oder? Du dummes Ding, wenn du mich nicht so erschreckt hättest …«
Ihre kleine, harte Hand drückte Minas Arm zusammen. Dann ließ sie plötzlich los, und Mina fuhr ein Schauder über den Rücken, als sie anfing zu kichern.
»Ach, was macht es schon.« Sie schlang sich in der Hocke die Arme um den Leib und wiegte sich auf den Fersen, als könnte sie sich kaum halten vor Lachen. »Was macht es, es wird auch so in die Brüche gehen. Ich werde froh sein,
wenn er endlich verschwindet. Was starrst du!« Das schrille Kichern zerriss in einem Fauchen. »Was weißt du denn schon! Ich habe nur noch die eine Schwester. Glaubst du, ich lass sie mit einem Herumtreiber gehen? Er würde ihr nur das Herz brechen, das würde er. Sie ist zu dumm, um es zu sehen. Zu dumm, zu verliebt! Verliebt! Pah!«
Sie spuckte auf den Boden.
In Minas Kopf schrammten die Gedanken aneinander, übereinander wie Steine in einer wilden Strömung. Sie öffnete den Mund, sinnlos, nutzlos, und Pipa kicherte wieder und zeigte mit dem Finger auf sie.
»Klapp ihn nur wieder zu, es kommt ja doch nichts heraus! Feines Gutsfräulein, es geschieht dir ganz recht, dass Lilja dich stumm gemacht hat. Wer weiß, vielleicht hat sie es mit Absicht getan? Damit wir dein hochnäsiges Gerede nicht länger ertragen mussten! Nicht mal deine Brüder wollen ja was mit dir zu tun haben!«
Minas Körper bewegte sich viel zu schnell für ihren Kopf. Ihre Finger krümmten sich wie Krallen, ihre Schulter stieß hart gegen Pipas Brust. Als ihre Gedanken sie einholten, lagen sie beide auf dem Moos, rissen und zerrten einander an den Haaren, stießen sich mit Knien und Füßen.
Minas Blut raste durch ihren Körper, von den Fingerspitzen bis in die glühenden Zehen. Ihr Herz schlug so heftig, ihr keuchender Atem brannte auf ihren Lippen. Sie schlug und trat mit zusammengekniffenen Augen, Pipas Gesicht nicht mehr als ein verwischter hellerer Flecken in der Nacht. Hitze in ihr, und Schmerzen, immer mehr Schmerzen, in Armen und Beinen und Händen, und das Brennen auf ihrer Kopfhaut, und dann dieses Geräusch, dieses kleine, jämmerliche, unerträglich hohe Geräusch …
Pipa weinte. Als Mina es endlich bemerkte, fiel die Hitze in ihr mit einem Schlag in sich zusammen. Sie riss die Hände zurück, rollte durch das Moos. Hinter sich hörte sie Pipa aufschluchzen.
»Geh doch weg, geh doch zurück zu deinem feinen Gut! Du machst alles kaputt, du bist genau wie er!«
Mina krümmte sich zu einer Kugel zusammen. Ein tiefes, schwarzes Loch tat sich in ihr auf, es zerrte und sog. Es tat so weh, dass sie die blauen Flecken von Pipas Fäusten darunter kaum noch spürte.
Aber Pipa hörte nicht auf zu weinen.
Irgendwann merkte Mina, dass der Regen wieder eingesetzt hatte. Unter dem zarten Ton, mit dem die Tropfen auf ihrer Schläfe zersprangen, hörte sie, wie Pipa zwischen Schluchzern stammelte:
»Das wollte ich nicht … das wollte ich doch nicht …«
Zögernd, steif rollte Mina sich herum. Pipa kauerte im Moos, die Handrücken gegen die Augen gepresst. Ihr Schleifenband hing nur noch an der Spitze einer Strähne. Es wäre die Zeit für Worte gewesen. Scharfe Worte, vielleicht; gekränkte Worte, jetzt, wo Pipa zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, um weiter ihr Gift zu verspritzen. Auch beruhigende Worte hätten es sein können, freundlich, versöhnlich, als die Ältere, die Mina wohl war.
Zum ersten Mal war Mina froh, dass sie nicht sprechen konnte. Welche Worte auch immer sie gewählt hätte - sie wusste, es wären genau die falschen gewesen.
So tat sie nichts, als sich ein wenig aufzurichten, bis ihr Gesicht auf einer Höhe mit Pipas war. Sie zog sich Blätter und kleine Zweige aus den Haaren; und ohne
dass sie es recht merkte, sammelte sie sie auch aus Pipas Schopf.
Das Tatermädchen zuckte unter der Berührung nicht zusammen. Nur der Kopf senkte sich tiefer, und das Schluchzen wurde etwas leiser.
»Ich hasse ihn«, murmelte Pipa dem Boden
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