Der siebte Turm 03 - Aenir - Reich der Schatten
würde, wenn sie ihn fragte, wie sie Tals Wunden heilen könnte. Oder sogar vom Weg der Eiscarls.
Und doch musste sie wieder einmal an all das denken, was sie Tal schuldete – und er ihr.
„Ich muss meinen Sonnenstein benutzen, um eine Säureverätzung zu heilen“, erklärte sie dem Kodex. „Sag mir wie.“
Kleine Wellen liefen über die silberne Oberfläche des Kodex, doch es erschienen keine Buchstaben.
„Rede mit mir!“, bat Milla. Sie klopfte gegen die Oberfläche des Kodex, die sich kalt wie Eis anfühlte. Das Klopfen hinterließ keine Spur und zeigte keinerlei Wirkung.
„Ich befehle dir, es mir zu sagen!“
Der Kodex schimmerte, doch es erschienen keine Worte darauf.
KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
„Warum gibst du keine Antwort?“, fragte Milla und ihre Frustration ließ sie barsch klingen.
Dieses Mal erschienen Eiscarl-Runen auf dem Kodex. Dunkle Symbole, die wie aus einer gewaltigen Tiefe zu kommen schienen.
Weil du mir keine Frage gestellt hast. Du musst mir Fragen stellen.
„Wie kann ich meinen Sonnenstein benutzen, um eine Säureverätzung zu heilen?“, fragte Milla.
Sieh zu und lerne.
Die Runen verschwanden und ein Bild erschien. Ein Bild, das so realistisch war, dass Milla einen Moment dachte, es wäre echt. Es zeigte ein Eiscarl-Mädchen, das einen Sonnenstein-Ring hochhielt. Es dauerte noch eine Sekunde, bis sie erkannte, dass sie es selbst war.
Unter dem Bild erschienen noch mehr Runen. Sie sagten ihr, was sie zu tun hatte; das Abbild von Milla tat jeweils das gleiche. Dann machte die echte Milla alles nach, was das Bild zeigte. Wenn sie etwas falsch verstanden hatte, weil sie die Runen nicht richtig lesen konnte, wiederholte das Bild den Vorgang so lange, bis sie es richtig machte.
Es dauerte eine Weile. Milla musste den Kodex immer wieder unterbrechen, um nach Tal zu sehen. Er war bewusstlos, doch die Wunde blutete nicht. Die Säure schien wenigstens die Blutgefäße verschlossen zu haben.
Schließlich war Milla bereit. Sie sah zu Tal hinunter und hob ihren Sonnenstein. Langsam rief sie einen blauen Strahl der Heilung hervor. Er musste genau die richtige Farbe und Dichte haben, doch das hatte sie sich eingeprägt. Es sah alles korrekt aus.
Millas Stirn war mehr denn je gerunzelt, als sie den blauen Strahl über die Wunde wandern ließ. Wo auch immer das Licht Tal berührte, stillte es den Schmerz und heilte die Verletzung. Das Fleisch begann nachzuwachsen.
Milla erzeugte neben dem blauen Strahl noch einen zweiten, den gelben Strahl des Ersetzens. Dieser war sehr schwer zu erzielen. Er würde eine Schicht aus Licht über die Wunde legen und künstliche Knochen, Muskeln, Nerven und Adern bilden, bis die ursprünglichen zurückgewachsen waren.
Der gelbe Strahl wanderte hin und her und ersetzte langsam Tals fehlendes Fleisch, Schicht um Schicht.
Irgendwann hatte sie es geschafft. Milla ließ das Licht wieder im Sonnenstein verschwinden und stieß einen zutiefst erleichterten Seufzer aus. Dann sah sie, dass Tal wach war und sie anschaute.
„Danke“, sagte er. „Das war sehr gut. Du hast ein Talent zum Heilen.“
„Ich bin eine Kriegerin“, gab Milla zurück und einen Moment dachte Tal, er hätte sie gekränkt. Doch dann sagte sie: „Einen guten Krieger erkennt man daran, dass er auch heilen kann. Obwohl das eher die Art eines Schwert-Thanen ist als die einer Schildjungfrau.“
Tal setzte sich auf und betastete vorsichtig sein Bein. Es schmerzte bis auf den Knochen, aber eher wie ein übler Zahnschmerz, tief und konstant. Doch konnte er sein Bein benutzen, wenn er vorsichtig war.
Adras half ihm, aus dem Sarg herauszuklettern. Es war eigenartig, wieder Schattenfleisch zu spüren, dachte Tal. Irgendwie fühlte sich Adras nicht unangenehm und klebrig an, wie andere Geistschatten.
„Sagtest du nicht, Ebbitt hätte eine Nachricht hinterlassen?“, fragte Tal. Milla gab ihm die Rolle, die in ihrem Sarg gelegen hatte, und griff dann in Tals Sarg, um ihm die seine zu geben. Es dauerte einen Moment, bis Tal klar war, dass es derselbe Texte war. Er las laut vor, damit Milla und die Geistschatten den Inhalt der Botschaft von Ebbitt hören konnten.
Liebe Kinder,
irgendjemand denkt nun wohl, dass ich gefährlich geworden bin, denn ein paar ganz bestimmte Geistschatten haben mir nachgeschnüffelt. Um sie von eurer Spur abzulenken – und auch von meiner – , bin ich von meinem üblichen Domizil nach unten, unten, unten, unten, unten, unten und noch einmal weiter
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