Der Sieg nach dem Krieg
sind für mich in Töne gegossene Kriegerdenkmäler.
Nach der Todesdroge zynisch-flotter Märsche führte die Musik der Unterdrückten die Menschen wieder zusammen. Wir haben es erlebt, im Jazz. Aus Sklavenliedern, auf den Baumwollfeldern in den Südstaaten entstanden, hat er den Aufbruch der Minderheiten in aller Welt artikuliert, die Grenze zwischen Rassen, das Verbot der Fraternisation weggetrommelt.
Musikalisch betrachtet, ist es nur ein kleiner Schritt von der Unterdrückung zur Freiheit. Mit dem Zwei-Viertelrhythmus des Marsches schüchtert Staatsgewalt zum Gehorsam ein, beim Vier-Viertelrhythmus, in den man aus dem Zwei-Viertelrhythmus nahezu unbemerkt hinübergleiten kann, verpufft jeder Kampfgeist, entkrampft sich der Mensch und schwingt brüderlich mit allen andern im Kollektiv. Wir haben’s erlebt. Wir haben herumgehorcht und uns dazugemogelt, wenn sich die Jazzmusiker trafen, nachts, nach Beendigung ihrer Engagements, Amerikaner und Deutsche, um miteinander zu spielen. Nicht zum Tanz, nicht für Publikum, nur zum eigenen Spaß, musikantisch in freier Improvisation, ohne Noten, ohne Gage, ohne zeitliche Begrenzung.
Jam Sessions nannten sich diese Entdeckungsreisen ins Reich der Töne. Hier wurde der Jazz als lebendige Sprache vorangetrieben, neue Gruppierungen, neue Ausdrucksformen, neue Harmonien entwickelten sich von selbst.
Aus Variationen über ein bekanntes Stück entstand mitunter ein neues. Da legte einer ein Thema vor, ein anderer übernahm es oder antwortete, ein dritter widersprach. Es kam zu hinreißenden Instrumentaldialogen bis sich die Beteiligten schließlich einigten und harmonisch kühn im Satz, ohne Unterschiede der Hautfarbe oder Nationalität, ihre Übereinstimmung auskosteten, wieder und wieder, weil es so schön war.
Wer nichts mehr dazu sagen wollte, trat in den Hintergrund, wippte oder klatschte den Rhythmus mit, andere sprangen ein, bliesen sich energisch nach vorn und lösten mit neuen Themen neue Diskussionen aus. Einer sang, ohne Text, in rhythmischer Phantasiesprache, Pianisten, Guitarristen, Bassisten wechselten sich ab. Minutenlang spielte einer allein, bis andere sich dazugesellten, plötzlich waren es zehn, zwanzig, dreißig, dann wieder nur drei. Alle erdenklichen Kombinationen ergaben sich, aber nie eine Pause. Wechselnde Rhythmen hielten die Sonnengeflechte in Schwingung. Wie bei einem afrikanischen Stammesritual, war allein die ordnende Kraft des Unterbewußtseins am Werk.
Dann am Morgen entstieg die Seele heiter dem musikalischen Bad, tauchte das Bewußtsein erfrischt aus der Trance. Mit sich selbst im Lot, ohne den leisesten Anflug von Müdigkeit, vielmehr wie eine frisch geladene Batterie, kehrte jeder zu seinen Problemen zurück, die ihm kleiner erschienen nach solch heidnischer Nacht. Die Trommelschläge aufs Zwerchfell, voodoo-haft über Stunden, machten uns das Jazzverbot der Nazis verständlicher. Ihre Angst war begründet. Auf kopflastige Europäer wirkt so eine Jam Session wie ein Purgativum gegen verquere Ideologien.
Bevorzugte Stätte nächtlicher Reinigung war der Weinbauer im Villenvorort Grünwald, eine bayrische Gastwirtschaft im Rustikalschick, die es heute nicht mehr gibt. Irgend jemand sagte, und das meist sehr spät, »Heut nacht geht’s wieder rund im Weinbauer !«
Die Nachricht kam einem Alarm gleich. Man verständigte andere, organisierte gemeinsam ein Transportmittel und machte Umwege. Wer ein Instrument beherrschte, sollte dabei sein, ob er schon schlief, möglicherweise nicht allein, spielte keine Rolle. Jam Session hatte Vorrang. »Max steh’ auf und nimm Dein Rohr !« Diese Aufforderung, durch den Spalt eines angelehnten Parterrefensters in Giesing geflüstert, galt Max Greger.
»I kimm schon !« antwortete er ohne Rückfrage, reichte den Kasten mit dem Saxophon heraus, zog sich an und kletterte hinterher.
»Der Rex Stewart is da !« eröffne te ihm der, auf den er sich setzte. Auf uns anderen saßen schon andere, samt Gerät. Zwei Instrumentenkoffer flankierten den Kopf des Fahrers wie Scheuklappen, unter einem schlanken Posaunenetui betätigte er den Schaltknüppel, der Gasfuß erreichte das Pedal über eine Trommel hinweg, die vor dem Sitz stand. Rechts und links saß je einer auf dem Rahmen der Türfenster, die Finger in die Dachrinne eingekrallt — auf zehn Kilometer gerade noch verkraftbar. Um mit Rex Stewart, dem berühmten Trompeter aus der Duke Ellington-Band zu spielen, hätte man sich auch auf die Kühlerhaube gelegt
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