Der Sieg nach dem Krieg
verschlief ich meinen Dienstantritt auf dem Wohnungsamt. Erst gegen Mittag traf ich zu einer Visite dort ein. Noch immer standen Schlangen vor den Türen, Menschen, die seit Stunden warteten und mit Recht ungehalten sein würden, wenn ich mit meinen Empfehlungsschreiben an ihnen Vorbeigehen wollte. Die Rolle des Sonderbevollmächtigten gefiel mir nicht; da mußte eine humanere Lösung gefunden werden. Human bedeutete ausnahmsweise dienstlich.
Im zugigen Treppenhaus saß in einer ehemaligen Telefonzelle der Pförtner und wärmte sich an einem Katalytofen. Über der Zivilkleidung trug er einen hellgrauen Arbeitsmantel, der ihn als Amtsperson aus wies. Ich fragte ihn um Rat — er erblühte, ich gab ihm ein Päckchen Zigaretten — er nahm sich wie ein Sanitäter meiner an.
»Dann sind Sie auch hier beschäftigt«, meinte er. Der Satz elektrisierte mich: Wenn ich in die Rolle eines Beamtenanwärters schlüpfte, was ich als Vertreter der Städtischen Bühnen durchaus verantworten konnte, stand mir dann nicht auch ein Arbeitsmantel zu, als Kostüm, um mich von der Kundschaft abzuheben? Mein Kollege sah das auch so und versprach, ohne Nachhilfe, seinen zweiten Zivilkleiderschoner mitzubringen.
Ein Päckchen Zigaretten ersetzte damals ein mittleres Ehrenwort. Gebügelt und gefaltet, wie aus dem Fachgeschäft für Berufskleidung, empfing ich gegen Mittag des nächsten Tages die neue Uniform. Sie paßte, ohne geschmäcklerisch zu sein, nur bedingt, reichte nicht bis in die Kniekehle, hatte eher Zwischenlänge, etwa wie ein leichter Gehpelz für die Übergangszeit. Dabei sollte es aus meiner Sicht ja auch bleiben.
Ein Requisit hatte ich von zu Hause mitgebracht, das meine Rolle noch glaubhafter machen sollte — einen Leitzordner, gefüllt mit meinen drei oder vier Papieren, dahinter, sozusagen als Futter, und mit einer Schnur gegen Herausrutschen gesichert, mein ungenaues Regiebuch aus der STURM-Inszenierung. So ausgerüstet und vom Kollegen mit Schulterklopfen abgesegnet, betrat ich die zwangsbewirtschaftete Bühne. Der Text ergab sich aus der Rolle: Gestatten Sie! — Ein Moment! — Würden Sie mich bitte durchlassen?
Unbehelligt bewegte ich mich an allen Schlangen und Trauben vorbei, von Sachbearbeiter zu Sachbearbeiter. Bis diese, Schlag zwölf, mitgebrachte Brote auf ihren Arbeitsplätzen aus wickelten, hatte ich mein Pensum erledigt. Ohne Kostüm wären gut und gern zwei Tage bei Buchstabe D, wie Dahlke, zwei weitere bei Buchstaben H, wie Hübner erforderlich gewesen. Mit Krückstock, der in meinem Kel1er stand, vielleicht die Hälfte. Doch abgeklungenes Leid soll ein abergläubischer Mensch nicht betonen.
Zu Aberglauben fühlte ich mich als Mitglied der Städtischen Bühnen — in welcher Funktion auch immer — verpflichtet. Schließlich gab es Abende, an denen ich auf der Bühne stand, mit ähnlich langen Sätzen, wie am Vormittag beim Wohnungsamt. Überhaupt glichen sich die Auftritte verblüffend. In Ödön von Horvaths Eisenbahnerdrama DER JÜNGSTE TAG, hatte ich beherzt an einer Schlange von Menschen vorbeizugehen, um einem Beamten, der hinter einem Tisch saß, etwas Wichtiges mitzuteilen.
Dann erst kam Maria Koppenhöfer. Sie rauchte leider nicht, konnte aber bei Butter nicht nein sagen, wenn ich während der Pause die Rolle wechselte und als fliegender Händler von Garderobe zu Garderobe meinem Nebenverdienst nacheilte. Die Gage allein hätte den monatlichen Mietzins nicht abgedeckt.
Jeder Mensch hatte seine Probleme und löste einen Großteil, indem er mit anderen darüber redete. Da sorgte sich eine Schulfreundin um ihr Elternhaus. Die derzeitigen Bewohner durften auswandern, was man damals für ein Geschenk des Himmels hielt. Vater und Mutter, seit den Bombennächten aufs Land verzogen, wollten die Gelegenheit nützen und hatten ihre Rückkehr schon in Zigarettenwährung eingeleitet. Kurz vor dem entscheidenden Stempel kam irgendeine ausländische Kommission oder Delegation dazwischen. Daß der alte Herr nicht in der Partei gewesen war, half dagegen nichts. Was sollte aus dem geretteten Gut werden? Auch die Mit-Sieger übernahmen Häuser möbliert.
Durfte ich mich da einschalten? Noch nicht. Wie ein Botschafter mußte ich vorab meine Regierung konsultieren. »Ich hätt’ eine Villa an der Hand...«
Bürgermeister und Assessor sahen mich an, als sei hier der richtige Mann am richtigen Platz. Solche Irrtümer gehören zum Wiederaufbau, machen ihn vielleicht erst möglich.
Das Wort
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