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Der Sieg nach dem Krieg

Der Sieg nach dem Krieg

Titel: Der Sieg nach dem Krieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Hassencamp
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bekanntlich in der Erinnerung.

    Es gab auch Damen, die schon ahnten, daß sich die überkommene Moral samt Lügenflor nicht restaurieren lassen würde. Sie dachten praktischer und hätten das vielleicht bedauert, wäre es ihnen bewußt gewesen. Dazu bedurfte es eines Anstoßes, am besten eines unliebsamen Erlebnisses. Die gab es in Fülle.
    Auf einem Fest hatte eine nach Kräften behütete Tochter aus gutem Hause einen jungen Mann kennengelernt und sich so sehr in ihn verliebt, daß sie ihn in die Enge der vollbewirtschafteten Wohnung entführte. Im Zimmer neben der Mama, nur durch eine verstellte Verbindungstür getrennt, umschlangen sie einander und achteten der Hellhörigkeit nicht.
    Sorgen hielten den Schlaf der Mutter knapp unter der Oberfläche. Das Hörbild von nebenan weckte sie und ließ sie lauschen, bis die neue, zusätzliche Sorge Kontur gewann. Um zu retten, was noch zu retten war, stand sie auf, schaltete das Licht im Korridor ein und öffnete ruckartig die Tür. Gleichgültig wie die Sichtverhältnisse gewesen sein mögen, das Verhältnis schien ihr klar, denn sie sagte, höflich, doch mit fester Stimme: »Wer immer Sie sind, verlassen Sie sofort das Bett meiner Tochter !«
    Auf dem Pantoffelabsatz drehte sie sich um. Den Unhold sehen zu wollen, sich zu überzeugen, daß er abließ von ihrem Kind im Zimmer, ehe es zum Kinderzimmer werde, verbot ihr die eigene Kinderstube.

Theateralltag

    V on Reprise spricht man beim Theater, wenn eine Inszenierung nach längerer Pause wieder in den Spielplan aufgenommen wird. Die dafür erforderlichen Proben, mehr oder weniger Erinnerungsdurchläufe für Text und Gänge, werden ohne Kostüm und nicht gerade mit Elan bestritten. Die Schauspieler deuten ganze Sequenzen nur an, sie markieren, wie es heißt, in provisorischer, ungefähr maßstabgetreuer Dekoration auf der Probebühne. Rollen lernt man ja nicht auswendig wie Schulbuchgedichte, sondern zusammen mit dem szenischen Ablauf und durch ihn. Wiederholt ein Schauspieler einen bei der Inszenierung festgelegten Gang, die festgelegte Geste oder Tätigkeit, fällt ihm der dazugehörige Text in der Regel von selber ein. Wichtige Szenen werden bei der Repriseprobe voll ausgespielt und auch wiederholt.
    Die Probebühne der Kammerspiele, damals ein sich verengendes stickiges Rechteck ohne rechte Ecken, mit ungeeignetem Lichteinfall, der Atmosphäre und Temperatur nach eine Rumpelkammer, erforderte höchste Konzentration. Insbesondere bei leisen Szenen, denn daneben lag das Klo des Verwaltungsgebäudes und die dünne Wand hielt das »dramatische« Geschehen dort nur notdürftig fern.
    Gusti Helminger, die Souffleuse, überbrückte oft taktvoll, indem sie besonders laut vorsagte. Sie war eine dicke, gemütliche Münchnerin, zahnlos und des Hochdeutschen nur im Flüsterton mächtig. Ob sie zu Hause ein Gebiß trug oder überhaupt keines besaß, blieb ungeklärt. Im Dienst wäre es ihr hinderlich gewesen. Zähne verursachen beim Flüstern Zischlaute, die weit tragen. Ohne kann man viel lauter, gezielter flüstern, mit weniger Streuwirkung, bei ungeschmälerter Deutlichkeit.
    Gusti Helminger jedenfalls konnte das, und nicht nur das. Wie eine Mutter fühlte sie Nöte im voraus , sah schon an Bewegungen, wie lange der Textvorrat noch reichen wird. Individuell half sie mit Stichworten oder ganzen Sätzen und das immer im richtigen Augenblick, bevor der Darsteller ins Schwitzen kam und aus Nervosität vielleicht Zeilen übersprang, was dann bei den Mitspielern Unsicherheit auslöst. »So weit derf i’s gar net kemma lassn !« verriet sie mir einmal, und ihre Lippen fältelten sich kunstvoll übereinander.
    Aber auch höchste Souffleurkunst hat ihre Grenzen. Ein Darsteller steht zu weit weg, sein Kostüm behindert das Gehör, oder der Kreislauf schwankt — bei der damaligen Ernährungslage eine ständige Gefahr. Erst kürzlich war einer mitten im Stück zusammengebrochen.
    Auf der Repriseprobe für Shakespeares STURM nach den Theaterferien, hatte Monster Caliban, bürgerlich Carl Wery, seinen Text fest im Griff. Er lallte, schnaubte, sabberte, die Nachbarschaft der Verwaltungstoilette paßte zur Rolle als wär’s Bühnenmusik. Am Abend im Kostüm, einem fischschuppigen Panzer, der Körper und Kopf wie ein Taucheranzug umschloß, führten temperamentvolle Bewegungsabläufe, mangelhafte Ernährung und behinderte Porenatmung zu einem blackout — wie man damals noch nicht sagte — das Ungeheuer sank auf alle viere, wankte und

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