Der Sieg nach dem Krieg
Sie die Schwester gesehen? Wo wohnt die Schwester?
Die Schultern hochzuziehen wäre zu wenig gewesen. Jetzt mußte Ausführliches geboten werden, damit es nicht nach Dummstellen aussah. Ich rettete mich in Phantasie: Sie sei meines Wissens von auswärts gekommen, zum Vorsprechen in den Kammerspielen und sei, da sie lange warten mußte, danach gleich zum Bahnhof zurück, um ihren Zug nicht zu versäumen. Genaueres wisse man nicht, da sie nicht engagiert worden sei. Sie habe mich lediglich gebeten, ihren Bruder zu grüßen, nachdem es für einen Besuch zu spät war. Ich hätte mein Versprechen gehalten, sei aber sehr unfreundlich empfangen worden. Offenbar wohne er nicht da.
Schlüssigem zu mißtrauen, lernen Polizeibeamte bei ihrer Ausbildung. Der vorschriftsmäßige Satz lautet dann: »Und das soll ich Ihnen glauben ?«
»Warum nicht ?« räumte ich ein. »Sie können ja im Theater nachfragen. Das Vor sprechen bei Intendant Engel war Mittwoch. Und sehr gut besucht .«
Bekannter Name und feste Adresse sind immer hilfreich. Ich konnte gehen, zu Fuß zu meinem Fahrrad, und habe mich als erstes bei meiner Phantasie entschuldigt.
So arbeitet die also! Nimmt einfach Teile aus dem Tischgespräch im Nebenzimmer und frisiert sie ein bißchen um. Vom Schicksal gnädig belehrt, mied ich künftig den Kreis der Verführer. Auch Herr Lang soll nicht mehr zum Mittagstisch erschienen sein. Doch das mochte einen anderen Grund haben.
Pfad der Tugend
D ie anständigen Mädchen — aufregend zahlreich — besaßen sozusagen ein Sperrdifferential, eine natürliche, aus christlicher Erziehung, Besorgnis um den guten Ruf und Monatszyklus gewobene Sperre, die sie genau differenzieren ließ, mit wem, wann, wo und wie, vor allem aber, mit wem nicht. Für erotisierte Pfadfinder eine Herausforderung der List, Lust und Phantasie. Begehren und Verwehren hieß das Spiel. Nicht Entehren und Vermehren. Ihre Verhaltungsfähigkeit machte die Mädchen doppelt schön und reizvoll.
Mit der Qual der Wahl belastet standen auf einem Faschingsfest zwei Maskerer am Rande der Tanzfläche. Sie ließen den archaischen Blick des Jägers und Sammlers schweifen; die Nacht sollte nicht ereignislos verstreichen. Einig in ihrem Wunsch, tauschten sie Meinungen aus. »Wie findest du die ?«
»Kenn’ ich vom letzten Fasching.«
»Und die?«
»Ist jetzt mit dem da verhandelt .«
Damit war sie für das männliche Solidaritätsbewußtsein tabu. Sie sahen sich weiter um, doch nirgends sprang der Funke über. So gerieten sie ins Grübeln, wie ein Mädchen denn beschaffen sein müßte, um den Abend gefühlvoll abzurunden.
Sie müsse sehr sinnlich sein — fand der eine.
»Was sind die Merkmale von Sinnlichkeit ?« Mit dieser Frage lenkte der andere das Thema in philosophisch-hypothetische Erörterungen.
»Sinnlichkeit ist dort, wo Frömmigkeit ist !« postulierte der eine. »Wenn’s ihr gleich alle Sicherungen durchhaut, läßt man’s besser. Das Gezügelte macht die Ausstrahlung. Kultivierter Reiz — das ist Sinnlichkeit .«
Dem widersprach der andere entschieden. Als Beispiel nannte er jene dumpf-doofe Fromme, die alles unbeteiligt hinnimmt. Sie wußten, wovon sie redeten, und suchten einen neuen Ansatz.
»Die Frömmigkeit muß mit Intelligenz gepaart sein, um sinnlich zu wirken .«
Jetzt zündete es. Wenigstens im Kopf. Wie aus einem Mund sagten beide: »Romano Guardini«.
Dieser damals berühmte Geistliche predigte in der Ludwigskirche. Zu ihm gingen alle frommen, intelligenten Mädchen, schlossen die beiden. Umgehend verließen sie das Fest und traten anderntags pünktlich um zehn Uhr ausgeschlafen in das Gotteshaus.
Wie wurden sie erquickt! Welch intelligente Augenweide! Welcher Auftrieb von frischgewaschenen Mädchen mit weißen Krägelchen! Welcher Duft von vorgezogenem Frühling!
Während der Messe — noch in Latein — fingen sie an, zwei aus dem Überangebot zu fixieren. Ernst, aber deutlich, daß sie’s merken mußten, erfüllten sie dabei alle rituellen Handlungen und hielten den Blickkontakt über die ganze Predigt aufrecht. Bei so viel Auge kam das Ohr zu kurz. Erst gegen Ende hörten sie genauer hin, um sich unauffällig zum Portal zu schleichen, bevor das Gedränge einsetzte. Am pseudoromanischen Nadelöhr stellten sie sich auf die Lauer und begannen betont förmlich ihr Freierwerk. »Meine Damen. Sicher ist ihnen nicht entgangen, daß wir während der Messe und während der Predigt — die wieder einmal ausgezeichnet war — ein
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