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Der Sieg nach dem Krieg

Der Sieg nach dem Krieg

Titel: Der Sieg nach dem Krieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Hassencamp
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gelang, das Gleichgewicht zu halten, tappte auf Stefano zu und beendete die Krisenpantomime mit korrektem Text.
    »Ich war weg. Zwei oder dreimal«, sagte er später total erschöpft in der Garderobe, »ich wollte mir Fleisch besorgen auf dem Schwarzmarkt und bin einer Razzia grade noch entwischt. Flucht und dieses Kostüm am selben Tag — das war zu viel. Aber so ein Ungeheuer ist ja ungeheuer dankbar .«

    Nicht nur die Kalorienlage der Nation erschwerte den Spielbetrieb. Bei einem Sommergewitter verirrte sich während der Abendvorstellung ein Blitz ins städtische Stromnetz. Der Schauspieler, der gerade sprach, hängte noch ein paar Worte im Dunkel dran, ehe er, mangels Antwort verstummte. Der Vorhang war gefallen. Zwar gab es ein batteriegespeistes Hilfslicht, auf das der Oberbeleuchter umschaltete, doch zum Ausleuchten der Szene oder gar zum Untermalen der Stimmung reichte die Kraft nicht.
    In solchen Augenblicken entscheidet der Abendregisseur, was geschehen soll — eine schwierige Aufgabe, zumal, weil er kein Regisseur ist, nur Regieassistent und als solcher anwesend zu sein hat, um den geordneten Ablauf des Stücks zu überwachen. Bei jenem Gewitter traf der Blitz auch mich. Ich mußte hinaus, das Publikum vertrösten, ohne zu wissen, für wie lange.
    »Ich setze voraus, daß Sie bemerkt haben, was los ist«, begann ich und erntete zustimmendes Raunen, was mir bisher in keiner meiner Kleinstrollen vergönnt gewesen war.
    Ach, tat das gut! Ein völlig neues Bühnengefühl bemächtigte sich meiner. Diese wärmende Übereinstimmung durften Schauspieler in großen Rollen jeden Abend auskosten. Vor lauter Wonne vergaß ich, daß ich keinen festen Text hatte und redete weiter, um den beseligenden Zustand zu halten.
    »Hör auf! Strom ist wieder da«, zischte jemand hinter mir durch den Vorhang und beendete mein Solo. Ich gab die freudige Botschaft weiter, wandte mich zum Gehen, fand aber die Stelle nicht, wo sich die beiden Vorhanghälften überlappen. Sofort schlug die heitere Gemeinsamkeit in Schadenfreude um. Knirschend bis ins Schuh werk ging ich ab.
    Ein guter Regieassistent hat das Loch im Vorhang auf Anhieb zu finden. Er muß allen Überraschungen und Pannen gewachsen sein. Diesen Mann gab es. Er hieß Franz- Joseph Wild und wurde später Oberspielleiter beim Bayerischen Fernsehen. Joschi, wie wir ihn nannten, hatte bereits große Rollen gespielt, sein Regiebuch glich einer Partitur. Jeder Gang, jede Geste, jede Pause waren genau verzeichnet, und er kannte alles auswendig, einschließlich der Texte. Sogar figürlich war er für sämtliche Rollen geeignet.
    Als eine Schauspielerin, sonst als pünktlich bekannt, nicht erschien — eine Zugentgleisung, wie sich später herausstellte — schlüpfte er in ihr Kostüm, brachte jede Geste, jede Nuance regiegetreu über die Rampe, diese Mauer für alles Zaghafte, spielte den Fremdpart beherzt und wurde beim Abgang mit der nächsten Hiobsbotschaft bestürmt: Der Leiter der Bühnenmusik wand sich mit Fischvergiftung in einem Sessel, und ein Musikeinsatz stand unmittelbar bevor.
    Joschi eilte mit männlichem Schritt in wehendem Gewand zu den Mannen, gab auf Stichwort den Einsatz, spielte die Celesta, trat wieder als Dame auf, kehrte zurück, um den Chor zu dirigieren, und es heißt, er habe auch das Donnerblech fachmännisch gerührt. Daß ihm bei der Hosenrolle, die er neben seiner Abendregie in dem Stück sowieso spielte, kein Fehler unterlief, versteht sich von selbst.

    Letzten Einsatz vom künstlerischen wie vom technischen Personal verlangte der Winter. Bereits im Dezember 1946 unterschritt das Thermometer die Minusmarke von 20 Grad. Auf der Bühne kletterte die Quecksilbersäule trotz des Aufgebots an Scheinwerfern nicht über Null. Wenn sich der Vorhang hob, klatschten die Zuschauer mit den Zähnen; die Darsteller hatten Mühe mit der Gesichtsmuskulatur und stießen Atemwolken aus, als spielten sie Dampflokomotiven. Keiner beneidete den Luftgeist Ariel in seinem hellenistischen Jünglingsaufzug mit nackten Armen und Beinen.
    Humanster Autor in dieser Ausnahmesaison war Max Frisch. Sein Requiem Nun singen sie wieder hatte am 19. September 1946 Premiere. Es spielte in der noch unbewältigten Vergangenheit, gewissermaßen aus Schweizer Sicht, nämlich auf der anderen Seite. Da saßen wir, eine Staffel alliierter Bomberpiloten in unserem Hort bei Wein, Kartenspiel und Swing aus dem Radio um den Tisch, in Gedanken bei unseren Angehörigen und beim bevorstehenden

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