Der Siegelring - Roman
Lektionen heute Nachmittag?«
»Nein, das ist vorbei. Meine Lektionen lerne ich jetzt durch das Leben.«
»Große Worte für ein kleines Mädchen!«, beschied Falco sie.
»Ich bin kein kleines Mädchen mehr, das solltest auch du allmählich zur Kenntnis nehmen. Ich bin die Tochter von Valerius Corvus, einem einflussreichen Mann mit großer Zukunft.«
»Ja, Domina.«
Leicht spöttisch verbeugte sich Falco in ihre Richtung. Es war klar, dass sie sich nicht fortschicken lassen würde. Darum sagte er zu Annik: »Es ist ein ungewöhnlich milder Winter in diesem Jahr. Selten haben wir so wenig Schnee und Frost im Februar erlebt.«
Annik ging auf das Spiel ein.
»Ja, ich hatte gefürchtet, dass es kälter würde. Es erinnert mich fast an das milde Klima in meiner Heimat.«
»Der Schnee wäre viel wünschenswerter, muss ich sagen. Derzeit führt der Rhein starkes Hochwasser. Es ist uns beinahe unmöglich, auf die andere Seite zu kommen.«
»Ach ja, eine lästige Schwierigkeit. Aber ich bin sicher, deine Truppen bewältigen das.«
»Mit Mühen. Aber es hat auch Vorteile, das warme Wetter. Die Wölfe sind in den Wäldern geblieben!«
»Oh, an die Wölfe habe ich gar nicht gedacht.«
»In den sehr kalten Wintern hungern sie, und dann suchen sie die Nähe der menschlichen Siedlungen auf.«
Gratia unterbrach das Gespräch mit einem unwilligen Laut.
»Du willst doch nicht behaupten, dass du gekommen bist, um mit Annik über das Wetter zu plaudern, Falco!«
»Nein? Warum nicht? Ich finde es ein sehr ergiebiges Thema!« Und zu Annik gewandt, meinte er: »Also, da die Gefahr durch Wölfe verhältnismäßig gering ist, hättest du Lust, mit mir auszureiten?«
»Aber gerne, Falco. Ich gebe nur Ilan Bescheid, dass er mir ein Pferd aufzäumt.«
»Ach ja, für mich auch eines, Annik. Ich begleite euch.«
»Natürlich, gerne. Nur solltest du etwas Passenderes anziehen, Gratia. In diesem hübschen Gewand würde es
dir sehr schnell zu kalt werden«, meinte Falco mit einem freundlichen Lächeln.
Sie sandte ihm einen giftigen Blick und stand auf.
»Ich bin mir sicher, ihr werdet nicht auf mich warten! Aber ich werde euch folgen, keine Sorge.«
Sie stob aus dem Häuschen, und Annik nahm ihren Umhang vom Haken.
»Eil dich, Annik.«
»Schon verstanden!«
Sie zäumte ohne Ilans Hilfe eine braune Stute auf und war aus dem Tor geritten, bevor Gratia zurückkam.
Falco und sie galoppierten ein Stück, bevor er in eine langsamere Gangart verfiel.
»Sie meint es nicht böse, Falco, aber man hat sie bisher im Unklaren über die Entwicklungen gehalten, darum ist sie so begierig herauszufinden, was geschehen ist. Und welche Auswirkungen das auf ihr Leben hat.«
»Ich verstehe. Corvus hätte mit ihr reden sollen.«
»Es ging alles sehr schnell. Aber nun sag, was ist passiert, Falco?«
»Annik, wann war Martius zuletzt bei dir?«
»Vor drei Tagen, als Erwan starb. Warum?«
»Wann war er bei dir?«
»Nachmittags. Er blieb bei mir bis zur Dämmerung, dann habe ich ihn in die Küche geschickt, damit er sich eine Wegzehrung geben lassen konnte. Er wollte noch am selben Abend in die Colonia reiten.«
»Dort ist er nicht angekommen.«
»Was?«
»Nein. Und sein Pferd kam am nächsten Tag ohne ihn zu seinem Stall zurück. Ich hätte mich viel früher um seine Abwesenheit kümmern müssen, aber dann kam Hadrian mit den Neuigkeiten, und alles ging ein wenig durcheinander.«
»Was vermutest du, Falco? Ich habe ihn bei mir nicht versteckt! Ich hätte ihn sowieso nicht halten können, er war viel zu euphorisch, dass er nach Rom gehen sollte.«
»Ja, so schien es mir auch. Annik, was habt ihr miteinander gesprochen? Gab es irgendeinen Hinweis, dass er desertieren wollte?«
»Absolut nicht. Nein, er wollte mich überreden, nach Rom mitzukommen. Er war dann dabei, als der alte Ofensetzer starb, wir sprachen über die alten Zeiten und über unsere gemeinsamen Erinnerungen.«
»Hat er Ulpia Rosina erwähnt?«
»Ja.«
»War er bei ihr?«
»Bevor er mich aufgesucht hat, ja.«
»Du wusstest von ihrem Verhältnis?«
»Seit November ahnte ich es, Anfang Dezember bekam ich Gewissheit. Durch Rosina selbst.«
»Oh. Mh.«
»Falco, was für einen Verdacht hast du?«
»Ist Ulpia Rosina im Haus?«
»Ich denke schon. Ich habe vorgestern mit ihr gesprochen, nachdem wir Erwan begraben haben.«
»Seither nicht mehr?«
»Du glaubst doch wohl nicht, dass die beiden miteinander fortgegangen sind? Martius ohne sein Pferd?«
»Weißt du, wie
Weitere Kostenlose Bücher