Der Siegelring - Roman
aufgetaucht?«
»Nach einigen Tagen, ja. Sie waren total verstört und wollten nicht darüber sprechen, was ihnen geschehen ist. Irgendetwas Grausiges ist ihnen im Wald begegnet. Weißt du, es gibt da alte Steingräber, in denen die Geister der ermordeten Gallier umgehen.«
Freudiges Gruseln stand in Gratias Gesicht, und Annik schüttelte ungläubig den Kopf. Geister waren es wohl nicht gewesen. Auch in ihrer Heimat gab es immer wieder einige Leute, vor allem junge Männer, die es als Schmach betrachteten, sich der Herrschaft der Römer zu unterwerfen und die jede Möglichkeit nutzten, den Besetzern üble Streiche zu spielen. Genau das war hier vermutlich passiert.
»Glaubst du das nicht?«, fragte das Mädchen.
»Ich denke, es waren keine Höhlengeister, sondern Menschen, die dem Senator und seinem Gefolge einen Schrecken eingejagt haben. Mir ist auf der Reise hierher
schon aufgefallen, dass die Wälder unheimlich sein können und gute Verstecke bieten!«
»Hattest du Angst?«
»Nicht sehr. Weißt du, in meiner Begleitung waren über vierzig kampffähige Männer, und der Praefect Aurelius Falco führte sie.«
»Oh, Falco! Mit ihm zusammen hätte ich auch keine Angst. Er ist ein verdammt guter Mann, sagt mein Vater!«
»Das ist er wohl!«
»Und der blonde Mann, mit dem du in der Colonia warst? Ist der dein Mann?«
»Wie man es nimmt. Er ist in die Legion eingetreten, und Legionäre dürfen nicht verheiratet sein.«
»Aber er ist dein Freund.«
»Ja, das ist er.«
»Vermisst du ihn?«
Annik zuckte mit den Schultern. In den letzten Tagen hatte sie an Martius nicht sehr viel gedacht. Zu viel Neues war auf sie eingestürmt. Sie hatte zwar jemanden vermisst, mit dem sie darüber hätte reden können, aber ein besonders guter Zuhörer war er nie gewesen.
»Kommt er dich hier mal besuchen?«
»Vielleicht. Ich weiß nicht, wie viel freie Zeit er hat.«
»Und wo hast du unsere Sprache gelernt. Wie spricht man in Nordgallien?«
»Ich habe eure Sprache von einem römischen Lehrer gelernt, und in Nordgallien spricht man Nordgallisch, was sonst!«
Annik grinste das Mädchen an.
»Du hattest einen römischen Lehrer?«
»Hast du keinen?«
»Doch ja, sogar mehrere, aber ich bin schließlich auch die Tochter eines Patriziers!« Vom Haus her wurde nach
Gratia gerufen, und das Mädchen zog eine Grimasse. »Da haben wir schon den Salat! Meine Literaturstunde - bäh. Ich muss gehen, um diesem kleingeistigen Humilius zu lauschen, der mir den ollen Ovid und seine Metamorphosen erläutert. Wenn er sich doch bloß in eine Zimmerfliege verwandeln würde!«
»Kein sehr menschenfreundlicher Wunsch. Was gefällt dir an Ovid nicht?«
»Zu tiefsinnig!«, feixte das Mädchen. »Wenn ich wenigstens was über den gallischen Krieg lesen dürfte! Na, egal. Darf ich dich wieder besuchen, Annik?«
»Wenn die Domina und dein Vater nichts dagegen haben, gerne.«
Gratia lief mit flatternden Gewändern auf das Haus zu, und kurze Zeit darauf kam Ursa mit einer lindernden Salbe und sauberen Verbänden zu Anniks Hütte.
»Du hättest Erwan die Arbeit machen lassen sollen«, meinte sie vorwurfsvoll.
»Mit Begeisterung. Aber der alte Tunichtgut riecht es, wenn es etwas zu tun gibt und löst sich in Luft auf.«
»Er sitzt hinter dem Getreidespeicher bei den Arbeitern und würfelt. Ich zeige dir, wo du ihn findest.«
Mit festen, aber fürsorglichen Bewegungen verband die bärenhafte Haushälterin Anniks Wunden und stellte ihr dann noch einen Korb mit Leckerbissen aus dem Haupthaus auf den Tisch.
»Sind von gestern übrig geblieben!«, brummte sie.
Am frühen Nachmittag betrat Annik zum ersten Mal die Villa. Sie war durchaus schon in großen Anwesen römischer Bauart gewesen, und wenn sie auch die prachtvolle Eleganz dieses Hauses beeindruckte, war sie doch nicht atemlos vor Staunen. Zum Peristyl, dem Säulengang, führte eine Steintreppe empor. Die ganze Breite des Hauses
nahm damit eine mit glatt geschliffenen Holzdielen belegte, überdachte Veranda ein. Ein paar geflochtene Korbsessel und ein dreibeiniger Tisch luden zum Verweilen im Schatten ein, und blühende Kübelpflanzen standen zwischen den weiß gestrichenen Säulen. Die Haustür stand offen und führte in einen großen Vorraum, dessen Boden mit Marmorplatten belegt war. Grünliches Licht fiel durch die verglasten Fensterscheiben und tauchte die Wandnischen in Schatten. Es war eine junge Dienerin, die Annik durch den Gang zu einem Wohnraum führte, in dem Ulpia Rosina
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