Der Siegelring - Roman
Corvus verheiratet worden. Die Verbannung von ihrer Familie und die arrangierte Heirat rochen leicht nach Skandal, fand Annik. Was sie aber miteinander verband, war Heimweh - Anniks Heimweh nach dem Norden und Rosinas nach dem Süden.
Als sie ihre Hütte erreicht hatte, griff sie kurz entschlossen zu den festen Stiefeln, vertauschte sie mit ihren Riemensandalen, die sie gewöhnlich trug, und ging mit energischen Schritten zum Tor hinaus. Es war vielleicht Gratias Beschreibung der Wälder, die so unheimlich schienen, dass sich niemand hineintraute, die sie zu dem Entschluss brachte, dorthin zu wandern. Sie hatte das Bedürfnis, alleine zu sein, und auf dem Gelände des Gutes war das einfach nicht möglich.
In die ausgebaute Zufahrt zum Tor mündete ein Karrenweg, der zum einen hinauf zum nahe gelegenen Dorf der Einheimischen führte, das die Römer Waslicia nannten, zum anderen aber auch eine Abzweigung zum Wald hatte, der Weg, den die Holzschläger normalerweise verwendeten, um Bau- und Brennmaterial heranzuschaffen. Diesen holperigen Pfad schlug Annik ein. Die letzten Viehweiden grenzten an niedriges Gebüsch, eine verfilzte Brombeerhecke, deren Früchte eifrige Kinderhände und noch eifrigere Vogelschnäbel abgeerntet hatten. Auch die schwarzen Beerendolden des Holunders waren verschwunden, doch die Haselnüsse hingen noch grün und unreif in dem Geäst. Annik schreckte ein rotbraunes Eichhörnchen auf, das begierig diese Nüsse begutachtete. Dann umgaben sie die hohen Stämme der Buchen und Eichen, die das Fundament der großen germanischen Wälder bildeten. Das Laubdach war dicht,
die Stürme der Tagundnachtgleiche waren bisher milde ausgefallen, doch das satte Sommergrün war hier und da zu Gelb verblichen. Gelegentlich taumelten schon welke Blätter zu Boden. Dennoch, der Tag war noch warm, und zwischen den Wolken schien immer wieder die Sonne durch. Der Weg war von den schweren Pferden der Holzschläger ausgetreten und dort matschig, wo der nächtliche Regen Pfützen gebildet hatte. Aber nach und nach verzweigte sich der Pfad in kleinere, schmalere Spuren, die in die Tiefe des Waldes hineinführten. Annik verstand jetzt die Warnung, nicht alleine hier einzudringen. Wer sich nicht wirklich gut auskannte, musste sich unweigerlich verlaufen. Es war in der Tat eine andere Art von Wald als die sturmgepeitschten Gehölze ihrer Heimat, deren Bäume sich nur mühsam im kargen, steinigen Boden festkrallen konnten. Dies hier war ein fruchtbarer, wild wuchernder, uralter Wald, der aus feuchtem, sattschwarzem Humus seine Nahrung bezog.
Sorgsam achtete sie darauf, sich die Abbiegungen zu merken, die sie nahm, um wieder den Weg zurück zu finden. Eine Hand voll roter Vogelbeeren diente ihr dabei zur Markierung. Es war sehr still zwischen den Bäumen, nur leises Blätterrauschen und ein gelegentlicher Alarmruf eines Vogels waren zu hören. Sie war schon eine ganze Weile gewandert, als sich plötzlich die Bäume zu einer beinahe kreisrunden Lichtung weiteten. Weiches Gras bedeckte den Boden, und niedriges Gebüsch umgab das Rund. Ein gefallener Baumriese lag an der Ostseite, sein Stamm von Moos und fächerförmigen Pilzen bedeckt. Annik betrachtete das schöne Fleckchen mit freudigem Staunen und fand, dass der Baumstamm zum Sitzen einlud. Gerade fielen schräge Sonnenstrahlen über die Baumwipfel und ließen das Gras smaragdgrün aufleuchten. Ein Hauch von Ehrfurcht streifte Annik. Das
Meer mit seinem weiten Horizont hatte sie schon oft an die Unendlichkeit gemahnt und ihre Seele frei werden lassen. Der Glaube an das Walten der Götter, so hatte sie bisher gedacht, musste einhergehen mit der Größe des Himmels und dem offenen Blick über die endlosen Weiten des Wassers. Doch hier hatte sie nun das Gefühl, dass auch die schützende, behütende Heimeligkeit des Waldes eine Gabe der Götter war, egal, welche hier wirkten. Der Wald bot Geborgenheit, warme Mütterlichkeit, Fruchtbarkeit und Reife.
Sie ließ diese Stimmung auf sich wirken, und das erste Mal, seit sie zu Beginn des Sommers ihre Heimat verlassen hatte, löste sich die Spannung in ihr.
»Mag sein, Mutter Tekla, dass du Recht hattest. In diesem Boden kann ich vielleicht neue Wurzeln schlagen. Ich werde geduldig warten«, sagte sie leise.
Die Sonne war weiter nach Westen gewandert und kam nun nicht mehr über die Baumwipfel. Annik mahnte sich, aufzubrechen, bevor es zu dunkel wurde, um die Wegmarken wieder zu finden. Sie fand den Weg zurück recht gut, doch als
Weitere Kostenlose Bücher