Der Siegelring - Roman
sie schon glaubte, den breiten Weg der Holzschläger erreicht zu haben, musste sie eine falsche Abbiegung genommen haben. Nach ungefähr hundert Schritten fiel ihr auf, dass sie in die verkehrte Himmelsrichtung ging. Natürlich hätte sie sofort umkehren müssen, aber die Neugier hatte sie gepackt. Der Pfad war nämlich breiter und ausgetretener als alle anderen zuvor und musste wohl zu einem bestimmten Ziel führen.
Sie fand es nach zwei Biegungen.
Ein kleiner freier Platz am Waldrand war es. Er war zwar von wilden Gewächsen bestanden, doch wirkte er seltsam gepflegt wie ein Gärtchen. Auf dem grasbewachsenen Boden stand ein behauener Stein, der ein tempelförmiges
Standbild trug. Rechts von ihm rankte sich eine Heckenrose darüber, deren letzte weiße Blüte sich über den steinernen Giebel neigte. Das Laub war gelb geworden, und rote Hagebutten hingen an den schwarzen Ästchen. Links stand ein noch dunkelgrün belaubter Weißdorn mit seinen ebenfalls leuchtend roten Früchten, hinter dem Stein ragte ein Vogelbeerbaum auf. Annik wurde mit einem Mal klar, was den gepflegten Eindruck hinterließ - kein einziges herabgefallenes Blättchen lag auf dem samtigen Rasen. Doch schimmerten einige Herbstzeitlosen in ihrem durchscheinenden Violett, und die Blätter von lange verblühten Maiglöckchen bildeten eine Insel unter den Büschen.
Sie ging näher heran, um die Inschrift zu lesen und die dargestellte Szene zu betrachten. Der Altar galt den aufanischen Matronen und zeigte drei Frauen in langen, faltenreichen Gewändern, die nebeneinander saßen. Die beiden äußeren trugen die runden Hauben der Verheirateten, das Mädchen in der Mitte war mit offenen Haaren abgebildet. Zu Füßen der einen älteren Matrone lag ein kleines Tier, Hund oder Katze, die andere hielt ein Füllhorn im Schoß. Das Mädchen jedoch hatte eine leere Schale in den Händen. Leer von steinernen Gaben, doch gefüllt mit einigen goldgelben Getreidekörnern und ein paar winzigen roten Blüten.
Ein Heiligtum war es, seltsamerweise mit einer römischen Inschrift versehen, doch die Gestalten trugen die Tracht der einheimischen Frauen. Annik fiel ein, dass Martius ihr erzählt hatte, dass die Römer auch der Epona, der keltischen Pferdegöttin, opferten, und so schloss sie, dass diese Matronen den hier lebenden Germanen oder Galliern heilig waren, von den Römern aber ebenfalls verehrt wurden. Sie lächelte bei dem Gedanken über die seltsamen Wege der Götter. Die ihren waren in
ihrer Heimat geblieben, dem Meer und dem Sturm verbundene Wesen. Das wurde ihr in diesem Moment bewusst und erklärte ihr endlich die Ursache für die nagende Leere in ihrer Seele. Lange betrachtete sie die drei Frauen, und plötzlich musste sie laut auflachen.
»Matronen, es war wohl kein Zufall, dass ich Euch gefunden habe. Sind nicht gerade jetzt drei Frauen in mein Leben getreten? Eine mütterliche Ältere, eine verheiratete Junge und ein Mädchen? Nun, ich will Euch morgen ebenfalls eine Gabe dafür bringen, auf dass Ihr mir wohlgesonnen seid.«
Annik sammelte sorgsam drei gelbe Blättchen auf, die während der Zeit, die sie vor dem Altar verbracht hatte, niedergefallen waren. Dann verbeugte sie sich ehrerbietig vor dem Stein und verließ die Stätte.
Was sie nicht bemerkt hatte, war, dass sich neben Heckenrose, Weißdorn und Vogelbeere auch die giftige Tollkirsche hinter dem Weihestein duckte.
12. Kapitel
Der Barde
Ende September hatte Annik das erste Mal den Töpferofen in Betrieb genommen und ihre ersten Ziegel gebrannt. Erwan, dessen Schlupflöcher sie inzwischen fast alle kannte, hatte ihr einigermaßen willig geholfen. Er war ein altes Original und weit davon entfernt, Annik die herrische Art übel zu nehmen, mit der sie ihn an die Arbeit scheuchte. Sie hatte herausgefunden, dass er ein Abkömmling der wenigen gallischen Eburonen war, die die Vertreibung und das Gemetzel der Römer überlebt hatten. Er hatte sie auch in das Dorf am Waldrand mitgenommen, wo germanische Ubierfamilien, ein paar römische Handwerker und die verbliebenen Gallier in friedlicher Nachbarschaft lebten. Dort fand alle sieben Tage ein Markt statt, den auch Charal und Ursa besuchten, um Vorräte, Werkzeug und heimische Produkte zu kaufen.
»Du kannst die Töpferware, die nicht im Haus benötigt wird, auf dem Markt auf deine eigene Rechnung verkaufen«, hatte der Hausverwalter Annik gesagt. Das hatte sie gefreut, denn nach wie vor weilte der Besitzer des Gutes in der Colonia, und sie
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